Frankreich wartet auf den neuen Bundeskanzer in Berlin

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Zum voraussichtlich letzten Mal als Bundeskanzler wird Olaf Scholz an diesem Donnerstag im Élysée-Palast in Paris erwartet. Scholz verabschiedet sich von Emmanuel Macron mit einem Thema, das in den vergangenen drei Jahren seiner Amtszeit die deutsch-französischen Beziehungen dominiert hat: die Zukunft der Ukraine und der euro­päischen Friedensordnung. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat sys­temische Unterschiede zwischen Berlin und Paris offengelegt und Konflikte entfesselt. Ob in der Energie­ver­sor­gung, in Verteidigungsfragen oder in der Handelspolitik, die deutschen Ge­gensätze zu dem vom gaul­listischen Selbstbehauptungsgedanken geprägten Politikverständnis an der Seine traten offen zutage.

Im Oktober 2023 wurde bei einer Kabinettsklausur in Hamburg damit experimentiert, die Streitpunkte im vertraulichen Gespräch der Minister beider Länder zu überwinden. „Außer Fischbrötchen nichts gewesen“, fasste ein Teilnehmer die enttäuschende Bilanz der Zusammenkunft zusammen. Statt Tacheles zu reden, hätten die Minister eher langweiligen Vorträgen von geladenen Referenten zuhören müssen. Am Abend seien die franzö­sischen Kabinettsmitglieder so enttäuscht von der Nichtdebatte gewesen, dass sie noch vor dem geplanten geselligen Beisammensein an der Bar in ihre Hotelzimmer verschwanden. Bei der Verabschiedung seiner Europa­beraterin lobte Macron sie für die gute Vermittlungsarbeit zur Ampelkoalition und fügte scherzhaft hinzu, nur eines könne er ihr nicht verzeihen, die Klausurtagung in Hamburg.

Im Élysée-Palast hält man sich indessen nicht mit vergangenen Irritationen auf, sondern hat den Blick auf die Zukunft gerichtet. Anders als in der Vergangenheit hat Präsident Emmanuel Macron nicht den Antrittsbesuch des neuen Bundeskanzlers in Paris abgewartet, um Handlungsmöglichkeiten mit Berlin abzustecken. Zuletzt berieten Macron und Friedrich Merz vergangene Woche bei einem Abendessen in der französischen Botschaft am Pariser Platz in Berlin über eine gemeinsame Agenda. Vorangegangen war ein mehr als dreistündiges Abendessen der beiden Politiker im Élysée-Palast. Möglich wird diese enge Abstimmung nicht nur, weil Merz, wie er selbst sagt, eine „starke emotionale Bindung zu Frankreich“ hat.

Deutsch-französisches „Wirgefühl“

Die Zweifel am amerikanischen Schutzversprechen befördern nach den Worten Macrons eine „nie da gewesene Übereinstimmung“ zwischen Paris und Berlin. 1963 war der Freundschafts­vertrag mit Frankreich auf Druck der Transatlantiker im Bundestag einseitig durch eine proamerikanische Präambel ergänzt worden. Merz’ Worte am Wahlabend, dass Europa „Schritt für Schritt Unabhängigkeit von Amerika“ er­reichen müsse, brechen aus franzö­sischer Sicht mit der Präambel­einschränkung.

Von einer „neuen Dynamik“ in den Beziehungen spricht auch Macrons ehemalige Verteidigungsministerin Sylvie Goulard. Die 60 Jahre alte Politikerin hat Merz in seinen Anfängen als poli­tischen Ziehsohn Wolfgang Schäubles und Karl Lamers kennengelernt. Merz sei ein überzeugter Europäer und engagierter Transatlantiker, so Goulard. Er könne deshalb nicht verdächtigt werden, aus einem antiamerikanischen Motiv heraus den Bund mit Frankreich zu stärken. Die Antwort auf die Frage, was Deutschland und Frankreich gemeinsam verteidigen wollten, sei dank Donald Trump viel klarer geworden, sagt Goulard der F.A.Z. Bei allen Unterschieden der politischen Systeme gebe es eine deutsch-französische Wertegemeinschaft zu sozialer Marktwirtschaft und Rechtsstaatlichkeit. „Wir ergänzen uns. Unsere Freiheit hängt von mehr strategischem Denken und einer starken Wirtschaft ab“, sagt sie.

Die Präsidentin des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg weist auf ein neues Umfrageergebnis des Instituts Infratest hin, wonach 85 Prozent der Deutschen der Meinung sind, dass man Frankreich vertrauen kann. Nur 16 Prozent sprechen demnach den USA das Vertrauen aus. Das „Wirgefühl“ müsse jedoch gepflegt werden. Die deutsch-französische Freundschaft sei ein Friedensprojekt gewesen, es sei nicht selbstverständlich, dass die Bürger automatisch die Notwendigkeit zu Aufrüstung und Wehrhaftigkeit anerkannten. Es sei wichtig, die Gesellschaft „an Bord zu behalten“, so Goulard.

Sie schlägt vor, die Debatte über einen erneuerten Wehrdienst grenzübergreifend zu führen. Deutschland und Frankreich seien auf der Suche nach einer geeigneten Form. Es wäre ein starkes Signal, wenn sie einen gemeinsamen Ansatz verfolgten. Die Herausforderungen durch Cyberangriffe und Desinformation müssten dabei berücksichtigt werden. Wehrpflichtige Studierende könnten etwa Antworten auf russische Troll-Farmen entwickeln. Man müsse sich vom Bild lösen, dass Wehrdienst bedeute, nur in Tarnuniform durch den Schlamm zu robben.

Grenzen zwischen Atom- und konventionellen Waffen

Frankreichs Modell der Berufsarmee war 1996 unter dem Eindruck entwickelt worden, dass Europa sich nicht mehr auf die Landesverteidigung konzentrieren müsse. Den Streitkräften wurde die Aufgabe zugeschrieben, als professionelles Expeditionskorps in kurzer Zeit Auslandseinsätze insbesondere in Afrika leisten zu können. Doch die Bedrohungen seien heute andere, meint die ehemalige Verteidigungs­ministerin, die als erste Französin im Vorstand der Stiftung der Münchner Sicherheitskonferenz sitzt. Künftig gehe es darum, sich im Falle eines russischen Angriffs verteidigen zu können. Deshalb sei auch die Rolle der Atomwaffen wieder in den Vordergrund gerückt.

Goulard warnt davor, die Grenzen zwischen Atom- und konventionellen Waffen in der öffentlichen Debatte zu verwischen. Atomwaffen seien Abschreckungswaffen. Aus ihrer Sicht braucht es keine „nukleare Zusatzklausel“ zum Aachener Vertrag, der bereits eine weitreichende Beistandsklausel enthält. In dem Vertragswerk sichern sich Deutschland und Frankreich im Falle eines bewaffneten Angriffs „jede in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung zu“. Wichtiger als Verträge seien Taten. Die rechtliche Situation Deutschlands sei ei­ne andere. Es habe im Zwei-plus-vier-Vertrag völkerrechtsverbindlich auf den Besitz von Atomwaffen verzichtet, sagt Goulard, die als junge Diplomatin an den Verhandlungen teilnahm.

Aber es sei durchaus denkbar, dass Frankreichs Atomwaffen Deutschland schützen oder auf deutschem Staatsgebiet stationiert werden. Das heute dazu mit den USA existierende System eines doppelten Schlüssels könne möglicherweise übernommen werden. Das Prinzip der zwei Schlüssel ist, dass Deutschland zwar keine Atomwaffen besitzt, es aber die im Land stationierten ameri­kanischen Atomwaffen einsetzen kann, wenn der amerikanische Präsident und die Bundesregierung zustimmen.

Goulard spricht sich für einen deutsch-französischen Stufenplan aus, um überprüfbare Fortschritte zu erzielen. „Das wird harte Arbeit erfordern“, sagt sie. Es sei „viel Zeit verloren worden“. „Wir waren kollektiv zu träge und faul“, meint sie. Die ungeklärte Nach­folge Präsident Macrons sei dabei kein Hindernis. Wenn es einen für alle Bürger sichtbaren Fahrplan hin zu einem deutsch-französischen Schutzversprechen gebe, könne dies wahlentscheidend sein. „Viele Bürger können verstehen, dass die von Moskau finanzierten und von der Plattform X unterstützten Rechtsparteien für sie gefährlich sind. Nationalisten sind nur stark, weil die Proeuropäer viel zu lange wenig Konkretes angeboten haben“, sagt Goulard.