Saskia Esken will nicht gehen

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Saskia Esken schreckt vor nichts zurück. Auch nicht vor Friedrich Merz. Lange Zeit hatten die beiden gar keinen Kontakt. Der Sauerländer war Esken fremd. Und der CDU-Vorsitzende dachte sich womöglich: Ich kann ja auch mit Lars Klingbeil sprechen, Eskens Ko-Parteichef. Noch kurz vor der Bundestagswahl bezeichnete Esken den CDU-Mann als Praktikanten, der nichts im Kanzleramt verloren habe.

Als dann aber klar war, dass Merz, egal mit welcher Vorerfahrung, wohl ins Kanzleramt einziehen würde, zeigte Esken sich flexibel. Hatte sie nicht auch mal Olaf Scholz abgesprochen, ein echter Sozialdemokrat zu sein? Am Ende war sie sein größter Fan. Saskia Esken ist oft hart, aber in entscheidenden Momenten beweglich.

Deswegen kommt sie jetzt gut aus mit Merz. So wird es in ihrem Umfeld beschrieben. Aus seinem hört man nichts Gegenteiliges. Ganz so eng wie mit CSU-Chef Markus Söder ist sie mit Merz zwar noch nicht. Denn noch siezen sich die beiden, mit Söder ist Esken schon lange per Du. Aber man grüßt sich freundlich, lächelt sich an. Auf Unionsseite haben sie schnell verstanden: An Esken führt derzeit kein Weg vorbei. Seit 2019 hält sie sich an der Parteispitze. Sie verhandelt, sie ist wichtig. Das hat Scholz verstanden, nachdem sie ihn im Kampf um den Parteivorsitz geschlagen hat. Das hat Angela Merkel eingesehen, die mit Esken rasch eine Verbindung fand. Und das hat Merz jetzt wohl auch verinnerlicht. Für seinen Weg zur Kanzlerschaft braucht er auch Esken.

Eskens Linkskurs sehen viele als Grund für die Wahlniederlage

Aber braucht die SPD Saskia Esken? Nach dem desaströsen 16-Prozent-Ergebnis bei der Bundestagswahl ist allen in der Partei klar, dass sich programmatisch, aber auch personell etwas ändern muss. Klingbeil ist das Machtzentrum geworden. Ihm weichen musste bisher nur Fraktionschef Rolf Mützenich. Wer übernimmt sonst noch Verantwortung? Viele kommen da schnell auf Esken. In dem linken Kurs, den sie vertritt, sehen viele den Grund, warum die SPD so viele Wähler verloren hat an CDU und AfD. Eskens öffentliche Auftritte jagen vielen Sozialdemokraten kalte Schauer über den Rücken. In Erinnerung ist ihr Auftritt in einer Talkshow nach dem Attentat von Solingen, wo sie behauptete, man könne aus der Tat bezogen auf die Befugnisse der Sicherheitsbehörden nichts lernen, weil der Täter nicht polizeibekannt gewesen sei. Als sie jetzt während der Koalitionsverhandlungen ein paar Tage Urlaub auf Lanzarote machte, verfestigte sich das Bild, das viele eh schon von ihr hatten.

Esken stammt aus Calw in Baden-Württemberg, eine rote Sozialdemokratin aus dem Schwarzwald. Sie habe in ihrer Heimat immer mit Leuten zu tun gehabt, die nicht ihrer Meinung gewesen seien, heißt es. Das sei keine schlechte Vorbereitung gewesen für die Bundespolitik. So kommen die Attacken, die seit einiger Zeit gegen die SPD-Vorsitzende laufen, auch nicht primär aus der Bundespolitik, sondern aus ihrer Heimat. Dort verbindet man die Misere der SPD mit ihrem Namen.

Der Lanzarote-Urlaub brachte das Fass im Nordschwarzwald zum Überlaufen. Klaus Kirschner, 60 Jahre SPD-Mitglied, 28 Jahre Bundestagsabgeordneter, macht Eskens Verhalten völlig fassungslos. „So was hätten die Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehner, Hans-Jochen Vogel oder Peter Struck doch niemals durchgehen lassen“, sagt der ehemalige Gesundheitspolitiker. „Sie klebt mit Pattex an ihrem Posten.“

In ihrem Wahlkreis holte sie nur 12,9 Prozent

Auch der SPD-Kreisrat Gerhard Gaiser aus Freudenstadt ist nicht gut zu sprechen auf Esken, ihre zahlreichen Fehltritte in Talkshows und ihre Leistungen als SPD-Bundesvorsitzende: „Ich habe noch Willy Brandt als SPD-Vorsitzenden erlebt. Zwischen ihm und Saskia Esken liegen ja Welten. Wir arbeiten dran, dass sie so schnell wie möglich zurücktritt.“ Esken sei eine Bundesvorsitzende ohne Empathie, sie habe keinen Draht zu den Menschen im Nordschwarzwald, das zeige ihr Erststimmenergebnis im Bundestagswahlkreis 280 (Calw) von nur 12,9 Prozent.

Gaiser äußerte sich in den vergangenen Wochen bereits mehrfach kritisch über die SPD-Chefin. „Ich bekam hierfür nur eine kritische Rückmeldung, ansonsten gab es nur Zustimmung, vor allem von vielen ehemaligen Bundestags- und Landtagsabgeordneten. Mich haben sogar Leute aus der Schweiz angerufen, die mit Sorgen beobachten, was bei uns in der SPD passiert“, sagt er. Das Bundestagswahlergebnis sei der „letzte Weckruf“ für die SPD, im nächsten Jahr sei in Baden-Württemberg die Landtagswahl, da müsse die Neuaufstellung abgeschlossen sein. „Die Bürger haben uns nicht wegen der Inhalte nicht mehr gewählt, es waren die Personen Olaf Scholz und Saskia Esken“, sagt Gaiser. Eskens Ansehen sei im Keller, die Stimmung im Kreisverband sei frostig. Wenn sie den Weg nicht endlich frei mache, sei das schlichtweg unsolidarisch. Gaiser fasst seine Analyse schließlich in einem Satz zusammen: „Die SPD hat mit einer Bundesvorsitzenden Saskia Esken keine Zukunft.“

In ihrem Wahlkreis zwischen Freudenstadt und Calw war die Stimmung für Esken auch vor der Bundestagswahl schon ­frostig. Allerdings teilen nicht alle SPD-Mitglieder die Kritik von Gaiser und Kirschner. „Wir haben hier einen starken Generationswechsel. Das wird gern vergessen. Die Stimmung an der Basis ist differenzierter“, sagt Melanie Nagel. Die Kreisvorsitzende von Freudenstadt gehört zu denen, die vor einer Kurzschlussreaktion warnen und sich immer noch solidarisch mit Esken zeigen.

Repräsentantin einer alten SPD

Die meisten Politiker würden bei derart harter Kritik schnell aufgeben – nicht Saskia Esken. Aus einem Nachteil wird hier ein Vorteil: Eine Hausmacht hat sie in Baden-Württemberg eh nicht. Deswegen kann sie die harsche Kritik auch an sich abperlen lassen. Esken ist Parteivorsitzende aus einer eigenen Logik heraus. Das schützt sie – zumindest noch eine Zeit lang.

Esken ist Repräsentantin einer alten SPD. Sie arbeitet nach innen, der sympathische Auftritt im Fernsehen ist für sie keine Kategorie. Im Spitzenduo mit Klingbeil vertritt sie die Parteilinke, hält die Verbindung zur Basis. Das ist in der SPD eine traditionell wichtige Rolle. Und auch wenn Klingbeil kein Interesse hat an einer Linksverschiebung der Partei als Ganzes, verliert er kein schlechtes Wort über seine Ko-Chefin. Denn haben die da unten das Gefühl, dass die da oben machen, was sie wollen, droht die Revolte. Es wird entscheidend auf Esken ankommen, ob der im Werden befindliche Koalitionsvertrag der Basis verkauft werden kann. Esken baut eine der Brücken der SPD-Basis zu Merz.

Würde Esken zurücktreten, wäre die Doppelspitze wohl Geschichte

Das ist auch der Grund, warum Esken von niemandem aus der SPD-Spitze derzeit direkt angegriffen wird. Und warum die deutlichste Kritik jenseits des Schwarzwaldes an ihr aus den Ländern kommt, wo die SPD regiert. Etwa von Dietmar Woidke, dem Ministerpräsidenten Brandenburgs, der eine personelle Erneuerung der SPD nach dem Wahldebakel forderte. Oder von Franziska Giffey, Berlins Wirtschaftssenatorin, die es absurd findet, dass Esken womöglich auch noch Ministerin werden will. In den Ländern regiert die SPD pragmatisch, also vergleichsweise konservativ. Da hat man kein Verständnis für die Willy-Brandt-Haus-Logik.

Esken beruhigt die Parteibasis, auch auf Kosten von Attacken auf ihre Person. Diese klare Rollenverteilung wird aber dann zum Problem, wenn die Kern-SPD immer weiter schrumpft und es viel mehr Aufgabe wäre, verloren gegangene Wähler zurückzuholen. An diesem Punkt steht die SPD gerade. Und Esken kann nicht viel zum Comeback der Partei beitragen.

In der SPD interpretieren einige die Angriffe auf Esken als Ausdruck eines frauenfeindlichen Zeitgeistes. Esken mag das auch so sehen, zumindest hat sie versprochen – andere sagen: gedroht –, den Männern in Union und SPD das Verhandlungsfeld nicht allein zu überlassen. Würde Esken jetzt zurücktreten, dann wäre die Doppelspitze vermutlich Geschichte. Das sagen diejenigen, die sich das wünschen – und solche, die das verhindern wollen. Erst mit Esken war die Doppelspitze 2019 überhaupt eingeführt worden, es sollte der Heilung der Wunde nach dem Rücktritt von Andrea Nahles dienen. Wohl auch deswegen macht keine der drei starken Frauen in der SPD Anstalten, Esken vom Thron stürzen zu wollen. Neben dem jetzt noch einige Zentimeter gewachsenen Klingbeil wollen Anke Rehlinger, Manuela Schwesig und Bärbel Bas offensichtlich nicht die Rolle der Juniorpartnerin einnehmen.

Es ist also nicht ausgeschlossen, dass sich Esken auf dem in den Sommer vorgezogenen Parteitag abermals als Vorsitzende zur Wahl stellt. Oder strebt sie sogar ein Ministerinnenamt an? Undenkbar ist auch das nicht. Esken wolle die Partei in einem guten Zustand übergeben, heißt es. Was gut ist und für wen, ist wohl Interpretationssache.