Die NATO ist auf eine mögliche Ausweitung des Konflikts vorbereitet. Unsere Strategie lautet „defend and deter“, verteidigen und abschrecken. Es wurde viel Arbeit geleistet. Alles, was wir der Ukraine an Ausrüstung und Ausbildung gegeben haben, war ein ziemlich unglaubliches Training. Wir haben den Russen die gesamte westliche Technologie und Taktik vor die Nase gesetzt. Unsere Aufgabe ist es, dass unser „Fight tonight“-Anspruch, also die ständige Einsatzbereitschaft, verbessert wird. Wir befinden uns in einem Wettlauf mit Russland. Wir müssen unseren technologischen und taktischen Vorteil ausbauen, um unsere strategische Überlegenheit zu sichern. Wir müssen in moderne Technologien wie Cyber, Weltraum und Drohnen investieren. Wir wissen, dass Russland in den nächsten drei Jahren aufrüsten wird.
Ein solcher Rückzug steht nicht auf der Tagesordnung. Aber die Amerikaner stehen vor der gleichen Herausforderung wie die Europäer, da ihre Verteidigungsindustrie sehr spezialisiert, teuer und langsam in der Produktion geworden ist. Die USA sind derzeit durch die Kriege in Europa, im Nahen Osten und der Huthi im Jemen sowie durch die chinesisch-amerikanische Rivalität belastet. Die Priorisierung Asiens ist nicht neu, sondern gibt es seit Präsident Obama. Die Europäer wollten es nur nicht wahrhaben. Die Trump-Administration sagt nun sehr klar und deutlich, dass die Europäer sich anstrengen müssen und sich nicht mehr darauf verlassen können, dass Amerika ihnen jedes Mal aus der Patsche hilft.
Es findet eine echte Debatte statt, aber die Europäer sind nun mal friedensverwöhnt. Die Politik arbeitet daran, den Bürgern klarzumachen, dass wir aufrüsten und eine Strategie zur Wiederbewaffnung brauchen. Es kommt auf die Prioritäten an. Das ist ein wenig so, als ob Ihr Haus brennt und Sie vor der Frage stehen, ob Sie einen Feuermelder, einen Feuerlöscher oder ein Tanklöschfahrzeug kaufen sollen.
Sind wir bereit, uns im Falle eines möglichen russischen Angriffs auf das NATO-Territorium im Jahr 2029 zu verteidigen?
Wir sind heute in einer Situation, in der es an allem mangelt. Wenn wir in drei Jahren bereit sein wollen, können wir nicht alle Lücken schließen. Die Rüstungsindustrie braucht mehrere Jahre, um ihre Produktion zu erhöhen. Das ist notwendig, aber diese Zeit haben wir nicht. Um sie zu gewinnen, müssen wir uns auf die Abschreckung konzentrieren. Sie können einen noch so dicken Schutzschild bauen, aber damit überlassen Sie es dem Feind, wann er Sie angreifen wird. Wenn Sie hingegen über Offensivwaffen verfügen, wird er abgeschreckt. Es geht also darum, sehr schnell Waffensysteme und Fähigkeiten zu erwerben, die eine abschreckende Wirkung haben.

Welche abschreckenden Waffen meinen Sie?
Wir brauchen vor allem Abstandswaffen für Schläge in der Tiefe. Wenn wir beispielsweise in der Lage sind, Systeme zu knacken, die Drohnen oder ballistische Raketen aussenden, ist das besser, als wenn wir diese Objekte bei uns zerstören müssen. Es ist immer billiger, den Schützen zu erschießen! Wir dürfen die Panzerproduktion nicht anhalten, aber es sind neue Technologien, die uns ermöglichen, die Lage kurzfristig zu ändern. Es geht jetzt darum, Drohnen in großen Mengen zu produzieren und dabei die vorhandenen industriellen Kapazitäten in unserer Automobilindustrie zu nutzen. Wir brauchen 20 Jahre, um 25 Fregatten zu bauen, während wir in drei oder vier Jahren 1.000 Drohnen produzieren könnten, um sie zu begleiten. Drohnen werden nicht alle Herausforderungen lösen, aber sie bieten uns viel mehr Optionen und stärken unsere Abschreckungsfähigkeit. Auf die Geschwindigkeit und das Ausmaß der heutigen Bedrohungen können wird nur angemessen reagieren, wenn zu einer Massenproduktion gelangen.
Was bedeutet dies für die Rüstungsindustrie? Müssen wir zu einer Kriegswirtschaft übergehen?
Der Begriff Kriegswirtschaft ist zweideutig. Ich verbinde ihn mit Zivilisten in den Citroën-Werken, die Granaten für den Ersten Weltkrieg herstellen. Heute brauchen wir etwas anderes, die Fähigkeit, in den Dual-Use-Bereich zu investieren, also in Güter für zivile und militärische Zwecke. Die Raumfahrt ist ein gutes Beispiel dafür. Starlink wurde für kommerzielle Anwendungen erfunden, wird aber auch militärisch genutzt. Das Gleiche gilt für Sensoren in der niedrigen Erdumlaufbahn, mit denen Wissenschaftler CO2-Emissionen messen, sie aber auch den Start von Kampfflugzeugen erkennen können.
Worin liegen die Vorteile solcher Investitionen in den Dual-Use-Bereich?
Sie sind eine Chance für Europa, (wieder) ein innovativer Kontinent zu werden. Wie in der klassischen Kriegswirtschaft Granaten oder Panzer herzustellen, das kann jeder auf der Welt. Die kommerzielle Raumfahrt zu erobern, über sichere IT-Anwendungen, KI und eine Roboterindustrie zu verfügen, das ist die Schlacht von morgen. Und vor 30 Jahren hatte Europa noch einen Dual-Use-Bereich. Ein Unternehmen wie Thomson stellte Waschmaschinen und Radargeräte her. Ein wichtiger Teil der Militärtechnik ist im zivilen Sektor entwickelt worden. Unsere Aufgabe besteht darin, dies an den militärischen Bedarf anzupassen, man nennt das Weaponization of Technology. Heute hinken die europäischen Streitkräfte bei der Digitalisierung hinterher. Für Ihr privates Bankkonto haben sie schon ein doppeltes Identifizierungsverfahren zum Schutz, für die Armee wird es erst in Kürze eingeführt. Um Ihnen Zahlen zu nennen: Die zehn größten Tech-Unternehmen in den USA investieren jährlich etwa 180 Milliarden Euro in die Forschung, die zehn führenden Rüstungsunternehmen 50 Milliarden und die zehn führenden europäischen Rüstungsunternehmen gerade mal zehn Milliarden.
Sie haben die kommerzielle Raumfahrt angesprochen. Welche Prioritäten sollten die Europäer hier setzen?
Wir erleben eine Kolonisierung des Weltraums. Es gibt ein Wettrennen um die Besetzung der Umlaufbahnen. Der freie Raum im All wird besetzt. Neue Dienste, gleich ob zivil oder militärisch, kommen in Massen auf den Markt, weil der Preis für Satelliten und Satellitenstarts in niedriger Umlaufbahn in den Keller gerauscht ist. Heute schickt die Falcon 9 von Space-X ein Kilo schon für 1000 Dollar in die Umlaufbahn. Unternehmen stellen Satelliten günstiger her als Autos. Europa ist auf diesem Feld ziemlich abwesend, und das ist schrecklich, denn wenn die Kolonisierung stattgefunden hat, werden wir den derzeit noch kostenlosen Raum teuer kaufen müssen.
Aber lohnen sich die Anstrengungen, können die Europäer in der Raumfahrt überhaupt noch zu den Amerikanern aufschließen?
Es gibt schon heute Dienste etwa von Eutelsat und Oneweb, aber sie sind nicht vergleichbar mit Starlink, das ist richtig. Doch ein wichtiger Punkt in der Zusammenarbeit zwischen Europa und den USA ist, dass Entwicklung unterschiedlicher Systeme widerstandsfähiger macht. Dessen sind sich auch die Amerikaner bewusst. Das zeigt das Beispiel Galileo, dass die Europäer nicht in Konkurrenz, sondern in Ergänzung zu GPS entwickelt haben. Das ist wichtig angesichts der neuen Bedrohungen. Der Weltraum wird zur Kampfzone. Es gibt heute Länder, die in der Lage sind, Weltraummanöver zur Einschüchterung durchzuführen und Ihre Satelliten nicht nur zu stören, sondern sogar anzugreifen. Es entstehen Orbitalwaffen, die es ermöglichen, dort oben zu kämpfen. Deshalb hängt die europäische Souveränität von morgen von der Fähigkeit ab, sich in diese Schlacht zu begeben.