Direkt gegenüber vom Istanbuler Rathaus liegt die prachtvolle Şehzade-Moschee aus dem 16. Jahrhundert. Auf dem Platz zwischen den beiden Gebäuden haben in den vergangenen Tagen Hunderttausende Istanbuler lautstark gegen die Inhaftierung des Oberbürgermeisters Ekrem İmamoğlu demonstriert. Manche flohen vor den Tränengasschwaden in den Hof der Moschee. Dabei warfen sie offenbar zwei alte Grabsteine um. Andere kletterten auf die Mauer der Moschee, um Bier zu trinken und besser sehen zu können.
Das war der Stoff, aus dem der türkische Präsident früher seine Wahlerfolge gestrickt hat: Die vermeintlich arroganten Kemalisten missachten den Islam, entweihen das Gotteshaus und blicken herab auf fromme Muslime, so die Erzählung. Polarisierung ist der Kitt, mit dem Recep Tayyip Erdoğan seine treue Anhängerschaft seit 2003 an sich bindet. Auch diesmal versucht er, das Thema auszuschlachten. Eine seiner Tiraden gipfelte in einem Angriff auf den Chef der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP): „Özgür Özel, eines Tages wird jemand dein Grab zerstören.“
„In eine Position der moralischen Überlegenheit gebracht“
Das Viertel hinter der Moschee ist eine Hochburg der Erdoğan-Anhänger. Viele der religiösen Stiftungen, die unter dem islamistischen Präsidenten ihren Einfluss mehren konnten, haben hier ihre Büros in osmanischen Prachtbauten mit schicken Innenhöfen. Doch selbst im religiös-konservativen Stadtteil Fatih ist Kritik am Frontalangriff des Präsidenten auf die Reste der türkischen Demokratie zu hören. „Meine Mutter war empört“, sagt eine Studentin, die sich selbst als „Hijabi Girl“ bezeichnet, als Kopftuchmädchen. Ihre Eltern wählen seit jeher Erdoğan. Es sei nicht die Inhaftierung des oppositionellen Präsidentschaftskandidaten, die ihre Mutter so erzürnte. Es sei die Aberkennung seines BWL-Diploms, sagt die Linguistikstudentin. „Über die Inhaftierung können sie sagen, dass İmamoğlu vielleicht eine Straftat begangen hat. Aber für den Entzug des Diploms nach mehr als 30 Jahren gibt es keine Erklärung.“ Außer dieser: Ohne Diplom kann İmamoğlu nicht bei Präsidentenwahlen antreten. Ein allzu durchsichtiger Schachzug.

Vierzig Prozent der Türken würden immer zu Erdoğan halten, „egal, was er macht“, glaubt die Studentin. Ihr Vater gehöre dazu. Ihre Mutter aber habe schon früher Zweifel geäußert. Vor allem wegen der sinkenden Kaufkraft und weil der Präsident die Religion politisch instrumentalisiere. Und jetzt? Erlaubt die Mutter ihrer Tochter, an den Protesten teilzunehmen. Nur der Vater soll davon nichts erfahren.
In einer aktuellen Umfrage des Ankara-Instituts lehnen mehr als sechzig Prozent der Befragten die Festnahme İmamoğlus ab. Nur gut zwanzig Prozent äußern Zustimmung. Die sonst so aktiven Erdoğan-Trolle in den sozialen Medien halten sich zurück. Auch von den Abgeordneten der regierenden AK-Partei ist wenig zu hören. Ein früherer Abgeordneter wurde aus der Partei ausgeschlossen, weil er die Verhaftung des Präsidentschaftskandidaten der CHP als verfassungswidrig bezeichnet hatte. In der CHP gibt man sich zuversichtlich: „Auf den ersten Blick hat Erdoğan İmamoğlu geschwächt“, sagt der CHP-Abgeordnete Yüksel Taşkın. „Aber in Wirklichkeit hat er ihn in eine Position der moralischen Überlegenheit gebracht.“ Das sei auch eine Form der Macht.
Das Wahlrecht ist den Türken heilig
„Die Entscheidung wird unpopulär bleiben“, sagt der Politikwissenschaftler Berk Esen von der Sabancı-Universität. „Klar ist, dass Erdoğan keinen anderen Ausweg sah.“ Seit 2003 hat er seine Legitimität aus Wahlen bezogen. Über die Jahre wurden sie zwar immer unfairer. Aber die Opposition glaubte bis zuletzt, sie gewinnen zu können. Nun muss der Präsident selbst zu dem Schluss gekommen sein, dass sein stärkster politischer Rivale, Ekrem İmamoğlu, ihn beim nächsten Mal schlagen könnte. So sagen es seit Monaten die Meinungsumfragen voraus. Die nächste Präsidentenwahl findet regulär erst 2028 statt. Es wird erwartet, dass sie auf 2027 vorgezogen wird, weil Erdoğan nach zwei abgeschlossenen Amtszeiten nicht mehr antreten dürfte. Vermutlich setzt er darauf, dass die Empörung über İmamoğlus Inhaftierung bis dahin ein Stück weit verflogen ist.
„Ich glaube, dass Erdoğan überrascht war vom Umfang und der Intensität der Proteste“, sagt Politikwissenschaftler Esen. Seit der Niederschlagung der sogenannten Gezi-Proteste von 2013 war die Zivilgesellschaft derart eingeschüchtert, dass sich nur noch wenige trauten, auf die Straße zu gehen. Hinzu kam Zynismus. Der Glaube an Veränderungen war verloren gegangen. Die Türken gewöhnten sich an das Grundrauschen der ständigen Festnahmen von Aktivisten, Kurden, Journalisten. Aber ihr Wahlrecht, das sie nun bedroht sehen, ist ihnen heilig. Eine Wahlbeteiligung von mehr als achtzig Prozent ist Standard in der Türkei.

An dieses Gefühl appellierte die CHP, als sie am vergangenen Sonntag zu einer symbolischen Wahl İmamoğlus aufrief, parallel zur innerparteilichen Mitgliederabstimmung über den Präsidentschaftskandidaten. Nach Angaben der Partei beteiligten sich an beidem mehr als 15 Millionen Menschen – jeder vierte Wahlberechtigte. Sogar in Kasımpaşa, dem Istanbuler Stadtteil, in dem Erdoğan aufgewachsen ist, bildeten sich Schlangen vor den provisorischen Wahllokalen. Auch dort erregten sich viele über die Aberkennung von İmamoğlus Diplom, weil sie wissen, dass es seit Jahren Zweifel an Erdoğans Universitätsabschluss gibt. Auch die Übernahme des Familienunternehmens der İmamoğlus sorgt für Verunsicherung. Das Gefühl breitet sich aus, dass alles, was man sich erarbeitet hat, über Nacht verschwinden kann. „Schweig nicht, sonst bist du der Nächste“, lautet einer der Slogans bei den Protesten.
Angesichts des Unmuts schaltete Erdoğan zunächst einen Gang zurück. Er verzichtete darauf, Istanbul unter Zwangsverwaltung zu stellen. Die Polizei ging anfangs auffallend zurückhaltend vor. Trotz Versammlungsverbots ließ sie die Kundgebungen laufen und trat erst mit Härte auf, als die meisten Teilnehmer schon gegangen waren. Mit U-Bahnen und Bussen konnten die Demonstranten ungehindert zu den Versammlungsorten fahren. Doch inzwischen zieht Erdoğan die Daumenschrauben wieder an. Mehr als 2000 Demonstranten wurden festgenommen. Unter den Studenten, die gerade erst dabei sind, eine neue Protestbewegung in Gang zu setzen, wächst die Angst. Gegen zahlreiche oppositionsnahe Medien wurden hohe Geldstrafen verhängt, weil sie live über die Kundgebungen und die Reden des CHP-Vorsitzenden Özgür Özel berichtet hatten. Der Vorwurf: „Anstiftung zu Hass und Feindseligkeit“. Der Fernsehsender Sözcü TV darf zehn Tage lang gar nicht mehr senden.
İmamoğlu ist für Erdoğan eine Gefahr, weil er ihm so ähnlich ist
Viele Beobachter glauben, dass auch Rachsucht Erdoğan antreibt. Istanbul ist für ihn eine sehr persönliche Angelegenheit. In der Stadt hat er seine Jugend verbracht. Dort stieg er in der islamistischen Wohlfahrtspartei auf und wurde 1994 zum Oberbürgermeister gewählt. Schon damals wusste er: „Wer in Istanbul siegt, siegt in der Türkei.“ So kam es dann auch. Doch wiederholen soll es sich nach dem Willen des Präsidenten nicht. Als İmamoğlu 2019 mit knapper Mehrheit zum Oberbürgermeister von Istanbul gewählt wurde, ließ Erdoğan die Abstimmung annullieren. Das ging selbst vielen seiner Anhänger zu weit. Die Wiederholung gewann İmamoğlu mit deutlichem Vorsprung.

Der 53 Jahre alte Politiker ist für Erdoğan auch deshalb eine so große Gefahr, weil er ihm so ähnlich ist. Beide stammen aus einer gläubigen Familie von der konservativen Schwarzmeerküste. Beide sind charismatisch und volkstümlich. Mit İmamoğlu als Aushängeschild gewann die CHP die Kommunalwahlen vor einem Jahr nicht nur in den Metropolen, sondern auch im anatolischen Herzland. Erdoğans AK-Partei erlitt die größte Niederlage seit ihrer Gründung. Danach nahm die Justiz die CHP unter Dauerfeuer. Dass Erdoğan so weit gehen würde, seinen Hauptrivalen hinter Gitter zu bringen, hat dennoch viele Türken überrascht.
Manche glauben, die Trotzreaktion der Istanbuler Wähler von 2019 könnte sich bei den nächsten Präsidentenwahlen wiederholen – auch wenn dann nicht İmamoğlu auf dem Zettel steht. In sozialen Netzwerken geht der Scherz um, dass selbst eine Flasche Cola gegen den Amtsinhaber gewinnen könne. „Die Leute sind so wütend, dass sie jeden wählen würden, den Erdoğan nicht mag“, sagt der CHP-Abgeordnete Yüksel Taşkın. „Um Wahlen kommt er nicht herum.“
„Übergang zu einer vollständigen Autokratie“
Noch hat die CHP einen zweiten starken Kandidaten, den Bürgermeister von Ankara, Mansur Yavaş. Im Unterschied zu İmamoğlu kommt er aus dem nationalistischen Lager, was nicht jeden in der Partei erfreut. Doch in der Bevölkerung kommt auch Yavaş auf höhere Zustimmungswerte als der Präsident. Schon gibt es erste Anzeichen, dass nun die Stadtverwaltung von Ankara ins Visier der Justiz gerät. Erst mal geht es nur um angebliche Unregelmäßigkeiten bei Ausgaben für öffentliche Konzerte. Doch auch in Istanbul hatte es harmlos begonnen. Und dann ist da noch die Sorge, dass die Republikanische Volkspartei von innen zersetzt werden könnte. Es gibt Ermittlungen, die darauf abzielen, dass es bei der Wahl des Parteivorsitzenden angeblich nicht mit rechten Dingen zugegangen sei. Er könnte durch einen Treuhänder ersetzt werden. Der Präsident hat angedeutet, dass das Schlimmste noch bevorsteht: „Die dicksten Rüben sind noch in der Satteltasche“, sagte er.
Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
Erdoğan hat schon oft drastische Schritte unternommen, wenn er seine Macht in Gefahr sah. Den vereitelten Putschversuch von 2016 nutzte er, um Militär, Justiz und Polizei mit Loyalisten zu besetzen und die Medienlandschaft unter Kontrolle zu bringen. Nachdem seine Partei 2015 die absolute Mehrheit im Parlament verloren hatte, nahm die türkische Justiz den Kurdenführer Selahattin Demirtaş ins Visier. Er sitzt seit 2016 im Gefängnis. Viele von denen, die 2013 eine zentrale Rolle bei den Gezi-Protesten spielten, sind noch immer nicht auf freiem Fuß. Der Politologe Berk Esen ist überzeugt: „Wir sehen gerade den Übergang von einem kompetitiven autoritären Regime, in dem Wahlen noch eine Rolle spielten, hin zu einer vollständigen Autokratie wie in Venezuela, Russland, Belarus und Aserbaidschan.“
Noch stemmen sich die demonstrierenden Studenten und die oppositionelle CHP dagegen. Nach einer Großkundgebung an diesem Samstag will die Partei den Protest in alle Teile des Landes tragen. Kurzfristig könnte es ihr schwerfallen, das Momentum aufrechtzuerhalten. Das Zuckerfest steht bevor. Der Präsident hat die Feiertage bis zum Ende der kommenden Woche verlängert. Viele Istanbuler Studenten dürften die Auszeit nutzen, um zu ihren Familien zu reisen. Doch der Kampf um die nächsten Wahlen wird ohnehin lange dauern.