Es sind viele. Sehr viele Leute. Schon am Bahnsteig staut sich die Menge. Es dauert Ewigkeiten, bis sie durch die Unterführung ins Freie gelangt sind. Währenddessen haben sie sich warmgeschrien: „Wir sind die Soldaten von Mustafa Kemal Atatürk“ und: „Wie froh bin ich, zu sagen, dass ich Türke bin.“ Es ist die säkulare Mittelschicht von Istanbul, die am Samstag im Stadtteil Maltepe den Aufstand probt. Sie protestieren gegen die Inhaftierung von Oppositionsführer Ekrem İmamoğlu und gegen die Erosion des Rechtsstaates in der Türkei. Diesmal sind es nicht die Studenten, die das Bild prägen.
Es sind viele ältere Leute, Familien mit Kindern und Großeltern, Ehepaare. Der Grund: Die Kundgebung, zu der die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) aufgerufen hat, ist von der Regierung genehmigt worden. Sie findet auf einem Veranstaltungsgelände weit außerhalb des Zentrums statt. Die Polizei tritt hier nicht mit Pfefferspray auf, sondern sorgt mit Taschenkontrollen für Sicherheit. Und obwohl viele hier den Eindruck haben, in einem autoritären Staat zu leben, vertrauen sie irgendwie doch noch auf Recht und Gesetz.
Mit ihrer schieren Zahl wollen sie Präsident Recep Tayyip Erdoğan ihre Entschlossenheit demonstrieren. Doch bei den Zahlen fängt der Streit schon an. Die CHP spricht später von 2,2 Millionen Teilnehmern. In den regierungsnahen Medien wird die Kundgebung entweder ganz ignoriert oder ihre Größe heruntergespielt. Anders als in Deutschland gibt die türkische Polizei keine Schätzungen bekannt.
Größte Versammlung seit Festnahme İmamoğlus
Klar ist aber: Es ist die mit Abstand größte Protestversammlung seit der Festnahme des Istanbuler Oberbürgermeisters und CHP-Präsidentschaftskandidaten İmamoğlu vor knapp zwei Wochen. Es sind Hunderttausende, gefühlt mehr als eine Million Menschen. So viele jedenfalls, dass noch zwei Stunden nach dem Ende alle Straßen und Bahnhöfe im Umkreis von Kilometern verstopft sind.
Sie wollen den Druck auf den Präsidenten aufrechterhalten, den hier alle nur „er“ nennen. Aber Illusionen machen sie sich keine. „Wir erwarten nicht, dass sich viel ändert. Aber wir können sagen, dass wir nicht geschwiegen haben“, sagt eine Krankenpflegerin. „Er wird es angesichts der Größe dieser Menge mit der Angst bekommen und noch mehr junge Leute einsperren“, meint eine Buchhalterin, die mit ihrem Mann, einem Tourismusunternehmer, gekommen ist. „Wenn er stürzen würde, müsste er ins Gefängnis. Deshalb wird er sich nicht bewegen.“ Die Frau ist hin- und hergerissen zwischen Hoffnung und Zweifeln. „Wir haben Angst zu hoffen“, sagt sie. Zu oft seien sie enttäuscht worden. Sie ist unsicher, wie viel sie wagen sollen. Als Mutter wolle sie natürlich nicht, dass ihr 20 Jahre alter Sohn ins Gefängnis komme. Aber zugleich will sie, dass er auf die Straße geht. „Es ist ein Dilemma.“ Die Buchhalterin erinnert an die Achtzigerjahre, als eine ganze Studentengeneration außer Landes fliehen musste. „Wir haben alle nur ein Leben.“
Könnte ein Generalstreik etwas bewirken?
Am Eingang zum Kundgebungsgelände sammeln sie Unterschriften für vorgezogene Neuwahlen und die Freilassung İmamoğlus. Die Petition ist Teil einer neuen Kampagne, mit der die CHP die Proteste von Istanbul in alle Provinzen tragen will. Erste Station ist die Heimatgemeinde des inhaftierten İmamoğlu in Trabzon an der Schwarzmeerküste. Am Sonntag reist der Parteichef Özgür Özel dorthin. Trabzon ist religiös-konservativ und deshalb ein Gradmesser dafür, ob es der Partei gelingt, in Milieus jenseits ihrer eigenen Klientel vorzudringen.

Ein pensionierter Vorarbeiter schlägt am Rande der Demonstration vor, einen Generalstreik auszurufen. Aber einfach wäre das nicht. Die Gewerkschaften haben in den vergangenen Jahrzehnten ihren Einfluss verloren und haben Konkurrenz von islamischen, regierungsfreundlichen Organisationen bekommen. Der Mann glaubt dennoch an einen langfristigen Erfolg der Bewegung. „Der Geist ist aus der Flasche. Er wird nicht mehr zurückgehen.“ In ein, zwei Jahren werde es vorgezogene Wahlen geben. „Wer auch immer gegen Erdoğan antritt, wird gewinnen.“
„Es gibt in der Türkei keine Protestkultur“, sagt ein Gymnasiast namens Ali, der mit einer Gruppe von Mitschülern gekommen ist. „Wir haben Angst vor einer Konfrontation mit der Polizei. Wir haben Angst, dass die Regierungsmedien uns als Terroristen und Vaterlandsverräter darstellen.“ Das tun sie allerdings ohnehin. Der Präsident obendrein. Er spricht von „Straßenterror“.
Razzien im Morgengrauen
Die Regierungspartei AKP sei gut darin, Feinde zu erschaffen, sagt ein Student, der gerade erst aus dem Polizeigewahrsam entlassen wurde. Er trägt Ohrring, Vollbart, Jogginghose. Nennen wir ihn Mustafa Dost. Morgens um 6.30 Uhr standen vier Polizisten der Anti-Terror-Einheit mit einem Durchsuchungsbefehl vor seiner Tür, so erzählt er. Der Vorwurf: Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation. Später bei der Vernehmung sei davon nicht mehr die Rede gewesen. Der neue Vorwurf: Teilnahme an einer unerlaubten Demonstration. 32 Stunden wurde Dost im Polizeihauptquartier festgehalten. Zusammen mit 25 anderen Studenten in einer Zelle für acht Personen.
Mit den Razzien im Morgengrauen versucht die Polizei, unter den Studenten Angst und Schrecken zu verbreiten. Bei Dost klappt das nicht. „Das ist für mich eine Ehrenmedaille“, sagt der Student und grinst. In seiner Zelle habe er sich als Wortführer ausprobiert. Um die Mitgefangenen aufzumuntern, hielt er Reden. „Ich habe ihnen gesagt, dass sie auf der richtigen Seite der Geschichte stehen, dass ihre Familien stolz auf sie sind und sie ihren Kindern später erzählen können, dass sie in jenen Tagen festgenommen wurden.“ Bis zur Gerichtsverhandlung darf Dost das Land nicht verlassen und muss sich regelmäßig bei der Polizei melden. Trotzdem glaubt er, dass 20 seiner 25 Mitgefangenen nach der Freilassung weiterprotestieren werden.
Den Umgang mit den Sicherheitskräften Polizei beschreibt Dost als relativ entspannt. Die Beamten in der Polizeistation hätten Witze über die Lage gemacht. Sein Vernehmer sagte ihm, „ich habe hier ein charismatisches Foto von dir“. Nicht alle Staatsbediensteten würden „das System“ unterstützen, sagt er. „Man spürt, dass sie glauben, dass wir recht haben. Aber sie können es nicht zugeben.“
Polizei verschärft ihr Vorgehen deutlich
Dost sieht seine Aufgabe nun darin, „in die Gesellschaft hineinzuwirken“. Zum Beispiel durch sarkastische Sprüche in den sozialen Medien, die hängen bleiben. Oder indem er den Kioskbesitzer in seiner Straße überzeugt, dass nicht stimmt, was im Fernsehen über die Proteste erzählt wird. Der Student wohnt in einem ärmeren, konservativen Stadtteil. „Die Leute sagen es nicht laut, aber sie flüstern mir ins Ohr, dass sie uns unterstützen.”
Die Polizei hat derweil ihr Vorgehen merklich verschärft. Sie erhöhte die Zahl der Razzien, sodass inzwischen fast jeder jemanden kennt, der festgenommen wurde. Sie kesselte Teilnehmer einer Protestveranstaltung ein und zwang sie, ihre Maskierung abzunehmen. Etwa hundert Personen wurden festgenommen. In den Whatsapp-Gruppen der Studenten streuten zivile Ermittler gezielt Falschinformationen. Viele hat das verunsichert. Unter den Organisatoren plädieren jetzt manche dafür, den Protest nicht mehr auf der Straße, sondern auf dem Campus fortzusetzen – in Form eines Bildungsboykotts. An der Istanbul-Universität haben sie der Leitung eine Liste mit Forderungen übergeben. „Wir wollen auf legale und organisierte Weise unseren Widerspruch zeigen”, sagt der Jurastudent Mehmet Ata Kaya. Ziel des Bildungsstreiks sei es, erst einmal Solidarität unter den Studenten herzustellen. Das schließt Studenten aus Wohnheimen islamischer Stiftungen ein, die aus religiös-konservativen Familien kommen. Wenn ihre Töchter und Söhne festgenommen werden, werden sie sich fragen müssen, auf welcher Seite sie stehen. „Es geht darum, ein Bewusstsein zu schaffen”, sagt Kaya.
Auch müssten die Studenten sich erst besser organisieren. So haben sie jetzt zum Beispiel eine Telegram-Gruppe gebildet, die die Polizei nicht so leicht mitlesen kann. Wer hineinwill, muss sich ausweisen und nachweisen, dass er keine Vorstrafen hat. „Wir wollen keine Provokateure“, sagt Kaya. Auch er fürchtet den Vorwurf des Vaterlandsverräters. Die Angst vor den Provokateuren ist auch deshalb so groß, weil sie bei den Gezi-Protesten von 2013 zur Eskalation beitrugen. Viele Türken sind überzeugt, dass es sich um verdeckte Ermittler handelte. Gezi steckt ihnen allen in den Köpfen. „Wir sind mit den Bildern und Erzählungen von Gezi aufgewachsen“, sagt Kaya. „Wir wollen so etwas Ähnliches machen.“
Erst einmal will er jetzt aber die Feiertage rund um das Zuckerfest bei seiner Familie verbringen. „Ich kenne viele Studenten, die nach Hause fahren, weil ihre Familien Druck auf sie ausüben.” Er selbst bekomme täglich 30 Anrufe von zu Hause. Auch die Regierung hat in den Ferienmodus umgeschaltet. Innenminister Ali Yerlikaya, der bisher täglich die Zahl der festgenommenen Demonstranten verkündete, zuletzt 1879, spricht jetzt nur noch vom Urlaubsverkehr, von Rasern und Unfallopfern.