Ist die EU bereit für mehr Souveränität?

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Europa ist bereit, sein Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Denn wir können es uns nicht leisten, zum bloßen Spielball der Geschichte zu werden.“ Ursula von der Leyen, die Präsidentin der Europäischen Kommission, schlug einen hohen, aber keinen neuen Ton an, als sie vor knapp zwei Wochen ihren Vorschlag für ein europäisches Aufrüstungsprogramm vorstellte. Rüstung und Verteidigung sind jene Politikfelder, auf denen die Europäische Union angesichts des wachsenden Desinteresses der amerikanischen Regierung an der NATO besonders dringend und schnell „strategisch autonom“ oder „souverän“ werden will. Die einzigen sind es aber nicht.

In der Corona-Pandemie und nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine hat die EU gelernt, wie problematisch ihre bisherige Abhängigkeit von China und Russland ist. „Ein großer Teil der europäischen Industrie basiert auf sehr billiger Energie aus Russland, auf sehr billiger Arbeitskraft aus China und auf hochsubventionierten Halbleitern aus Taiwan“, urteilte die ehemalige EU-Kommissionsvizepräsidentin Margrethe Vestager. Seit Beginn der zweiten Amtszeit des amerikanischen Präsidenten Donald Trump kommt die Erkenntnis dazu, dass auch die Auslagerung der Sicherheit an die Vereinigten Staaten keine Option mehr ist. Trump sieht sich auch in anderen Bereichen nicht als Partner der EU, sondern als Konkurrent. Das belegen die schon angekündigten und die noch drohenden Zölle.

Europa ist gezwungen, Autonomie und Souveränität neu zu denken. Ist die EU dafür ökonomisch bereit? Im Brüsseler Jargon steht nach dem De-Risking von China nun das De-Risking von Amerika auf dem Programm, auch wenn von der Leyen diesen Begriff nie in den Mund nehmen und die USA anders als China noch lange nicht als „systemischen Rivalen“ einstufen würde. Die Neuorientierung schlägt sich vor allem darin nieder, dass die Kommission systematisch den Kontakt zu anderen Partnern jenseits der Vereinigten Staaten und Chinas sucht. Der schnelle Abschluss des Handelsabkommens mit den südamerikanischen Mercosur-Staaten nach der Wahl Trumps im November war ein wichtiger Schritt auf diesem Weg, der über die reinen Handelsbeziehungen hinausreicht. Es geht um Einfluss, geopolitisch wie geoökonomisch.

Die EU sucht neue Partner

Die gemeinsame Reise nahezu der gesamten Kommission nach Indien Ende Februar war der nächste Schritt. Auch sie mündete in ein klares Bekenntnis zu einem schnellen Abschluss der Handelsgespräche bis zum Jahresende. Mitte März folgte das Gipfeltreffen der EU mit Südafrika. Von der Leyen kündigte neue Finanzhilfen von 4,7 Milliarden Euro im Rahmen des Programms „Global Gateway“ an, das als europäische Antwort auf die chinesische Seidenstraßeninitiative gedacht ist.

Ende kommender Woche wird von der Leyen mit Ratspräsident António Costa zum ersten Gipfeltreffen von EU und Zentralasien nach Usbekistan reisen, unmittelbar nach dem von Trump ausgerufenen „Befreiungstag“, an dem er die nächste Zollwelle ankündigen will. Die Botschaft ist klar: Die EU sucht neue Partner, mit dem Ziel größerer Souveränität. „Wir leben in einer zunehmend unübersichtlichen und zersplitterten Welt, in der die einzige praktikable Lösung für die EU darin besteht, stärkere Partnerschaften aufzubauen, um Frieden und Wohlstand zu fördern“, sagt Costa.

Am größten aber ist der Handlungsdruck in der Verteidigung. Die Europäer stehen einer konkreten Bedrohung aus Russland gegenüber und können sich nicht mehr auf amerikanischen Beistand verlassen. Bis zu Trumps zweitem Amtsantritt herrschte auch in den meisten EU-Mitgliedstaaten die Ansicht vor, dass die Europäer der russischen Bedrohung im Rahmen der NATO vorbeugen und keine Parallelstrukturen aufbauen sollten. Diese Annahme hat keinen Bestand mehr. Die Tatsache, dass die Europäische Union für die Verteidigung im Prinzip gar nicht zuständig ist, tritt zunehmend in den Hintergrund.

Bis 2030 „verteidigungsbereit“?

Markige politische Bekenntnisse, dass die EU mit 449 Millionen Einwohnern sich von den Vereinigten Staaten mit 342 Millionen Einwohnern nichts diktieren lassen müsse, helfen da nicht weiter. Zumal die Amerikaner in der Wirtschaftskraft die Europäer weit hinter sich lassen und auch bei den Verteidigungsausgaben den Ton angeben.

Von der Leyen will die EU bis 2030 „verteidigungsbereit“ machen. Das Zieldatum beruht auf Geheimdiensterkenntnissen, wonach Russland bis 2030 militärisch bereit wäre, einen neuen Krieg zu beginnen. Die Europäer sollen künftig bestmöglich zusammenarbeiten und drastisch aufrüsten. Die Staats- und Regierungschefs der EU haben die Vorschläge im Grundsatz schon gebilligt.

Unrealistischen Ideen wie einer europäischen Armee erteilt die Kommissionschefin eine Absage. Die Mitgliedstaaten behielten immer die Verantwortung für ihre Truppen, sagt sie. Als Kernaufgabe der EU sieht sie kurzfristig das Füllen von „Fähigkeitslücken“. Damit ist zum einen gemeint, geleerte Arsenale mit Flugkörpern, Munition, Artillerie und Luftabwehr wieder aufzufüllen. Zum anderen aber soll die EU militärische Systeme entwickeln, die ihr bisher fehlen und derentwegen sie so stark von den Vereinigten Staaten abhängt. Dabei geht es besonders um Drohnen und ihre Abwehr, um „offensive Cyberfähigkeiten“ oder um den Einsatz von militärischer Künstlicher Intelligenz und Quanteninformatik.

„Wir brauchen militärische Autonomie“

Über solche „strategischen Ermöglicher“ werde die EU bis 2030 nicht komplett verfügen und bleibe insoweit abhängig von den Vereinigten Staaten, sagt Sven Biscop. Er ist Politikwissenschaftler am belgischen Egmont-Institut für internationale Beziehungen. Auch amerikanische Geheimdiensterkenntnisse werde die EU in diesem Zeitraum nicht ersetzen können, warnt Biscop. Damit werde man frühestens 2035 so weit sein.

Das ändere aber nichts daran, dass von der Leyen auf dem richtigen Weg sei. „Wir brauchen militärische Autonomie. Das bedeutet die Fähigkeit, militärische Operationen ohne die Hilfe der USA durchführen zu können“, sagt Biscop. Als ein Beispiel für solche Möglichkeiten gelten Frankreichs nuklear bestückbare Rafale-Jets, die frei von amerikanischen Komponenten sind.

Die Kommissionschefin befindet, dass Umfang, Kosten und Komplexität einschlägiger militärischer Projekte weit über die Kapazitäten einzelner Mitgliedstaaten hinausgingen. Die EU könne neue Autonomie aber aus gemeinschaftlichen Vorhaben gewinnen. Dazu zähle die gemeinsame Entwicklung staatlich finanzierter Großprojekte, aber auch die gemeinsame Beschaffung. Die Hoffnung liegt in größerer Nachfragemacht und einem so günstigeren Einkauf. Die Vorschläge der Kommission enthalten ferner spezielle Autonomievorgaben, die darauf hinauslaufen, dass in Europa eingekauft werden muss („Buy European“). Waffen sollen grundsätzlich nur bei Unternehmen bestellt werden, die ihren Sitz in europäischen EU- oder NATO-Staaten haben. Zudem müssen mindestens 65 Prozent der Kosten eines Produkts auf Komponenten aus der EU entfallen.

Ausnahmen für die Aufrüstung

Vor allem gemeinsame Projekte will von der Leyen aus einem neuen Gemeinschaftsfonds von 150 Milliarden Euro mit dem Namen „SAFE“ finanzieren. Er soll aus dem EU-Haushalt besicherte Kredite am Markt aufnehmen und diese an die Mitgliedstaaten durchreichen. Dahinter steckt die Idee, dass viele Länder die Projekte zinsgünstiger finanzieren können, als wenn sie selbst Anleihen begäben. 20 der 27 EU-Staaten könnten davon profitieren, heißt es in der Kommission. Freilich sind die Zinsdifferenzen der meisten Länder zur EU sehr gering, sodass nur einige Länder mit erheblichem Risikoaufschlag wie Ungarn und die Tschechische Republik davon erheblich profitieren dürften.

Die 150 Milliarden Euro aus dem SAFE-Fonds sind die einzigen, über die die EU-Kommission in Sachen Verteidigung direkt verfügen könnte. Von der Leyen hat für die Aufrüstung bis 2030 indes 800 Milliarden Euro aufgerufen. Der Rest von 650 Milliarden Euro beruht auf der Hoffnung, dass die Mitgliedstaaten selbst viel mehr Geld in die Rüstung stecken und das Kommissionsangebot annehmen, für diese Ausgaben von den EU-Budgetregeln ausgenommen zu werden. Ob diese Hoffnung trägt, ist offen. Union und SPD haben in Berlin für die Verteidigung die Schuldenbremse gelockert. Vor allem in den schon jetzt hoch verschuldeten EU-Staaten überwiegt aber Zurückhaltung gegenüber dem Finanzpaket von der Leyens.

Ähnlich schwer tun sich manche EU-Mitgliedstaaten mit dem Versuch der Kommission, neue Allianzen zu schmieden. An einer Vertiefung der Handelsbeziehungen mit dem Rest der Welt kommt die EU nicht vorbei, wenn sie ihre Versorgung mit wichtigen Rohstoffen sichern und ihre Wirtschaftsbeziehungen differenzieren will. Mehr Handel mit Ländern wie Kanada, Mexiko, Japan, Südkorea und Vietnam – alles Länder, mit denen die EU schon Handelsabkommen hat – würde zusammen mit einer leichten Absenkung nicht-tarifärer Handelshemmnisse um fünf Prozent die Folgen eines Handelskriegs mit den USA ausgleichen, argumentieren die Autoren einer Studie des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel für die Heinrich-Böll-Stiftung.

Die Erkenntnis der Vorteile des internationalen Handels aber ebnet neuen Handelsabkommen noch nicht den Weg. Ob das Mercosur-Abkommen die Mehrheit unter den EU-Mitgliedstaaten finden wird, ist offen. Groß ist die Angst in Ländern wie Frankreich, den Niederlanden oder Österreich vor Bauernprotesten gegen die Konkurrenz aus Südamerika. So ist momentan unklar, inwieweit die EU tatsächlich in der Lage sein wird, wirtschaftliche Souveränität durch engere Handelsbeziehungen zu anderen Ländern zurückzugewinnen und sich von China und den USA mehr zu lösen.

In direktem Widerspruch zum Ausbau der Handelsbeziehungen sucht die Europäische Kommission mehr Souveränität auch durch mehr Protektionismus zu erlangen. Eingeschlagen hat sie diesen Weg schon in der ersten Amtszeit von der Leyens. Einschlägige Initiativen wurden als europäische Antwort auf vermeintliche oder tatsächliche amerikanische Industriepolitik formuliert und mit dem Ziel begründet, die Wettbewerbsfähigkeit der hiesigen Wirtschaft zu stärken.

Dahinter steht die Idee, die europäische Wirtschaft müsse mindestens in Schlüsselbranchen unabhängig von Amerika und China werden; dazu bedürfe es der staatlichen Förderung und des Schutzes. Beispiele sind die im EU-Rohstoffgesetz und im „Net-Zero Industry Act“ zur Förderung grüner Technik verankerten Vorgaben, europäische Produkte zu bevorzugen. In neuen Initiativen wie dem „Clean Industrial Act“ setzt sich das fort. In diese Reihe gehört auch die Ankündigung, die Fusionskontrolle mit der Absicht zu lockern, europäische Champions zu schaffen. Nach außen schützt die Kommission die Industrie durch Zölle vor der vermeintlichen chinesischen Überproduktion. Wo das alles nicht ausreicht, will von der Leyen im Rahmen des nächsten mehrjährigen EU-Finanzrahmens mit einem großzügig ausgestatteten Wettbewerbsfonds den Subventionshahn öffnen.

Von klassischer französisch inspirierter Industriepolitik ist die so verstandene Souveränität nicht weit entfernt. Mit der naheliegenden Lösung für mehr Souveränität, der Förderung der Wettbewerbsfähigkeit durch Deregulierung, hingegen tut von der Leyen sich nach wie vor schwer. Ihre ersten Vorschläge zum Bürokratieabbau gingen zwar weiter als alle anderen Initiativen der vergangenen Jahre. Als großer Sprung zur Befreiung der Wirtschaft von unnötigen Auflagen aber gelten die Initiativen noch nicht. Philipp Eckhardt vom Centrum für Europäische Politik spricht für viele Ökonomen, wenn er die Vorschläge nur „einen kleinen Schritt“ nennt.