Die vollautomatische Fabrik der Zukunft

5

Wenn Jelena Hocke den linken Arm in die Luft reckt, erwacht der kleine Roboter vor ihr zum Leben, und sein Motor schnurrt auf. Hebt sie den rechten Arm, bewegt er sich langsam von der Stelle. Wie von Geisterhand gesteuert, dreht er unter dem Dach der großen Messehalle von Hannover eine erste kleine Runde. Unter seiner Metallhaube stecken ein elektrischer Antrieb und viel Computertechnik. Chips und Sensoren, Hardware, Software und Algorithmen. Damit dirigiert Frau Hocke ihn rasch und sicher zum Ziel.

„Ein fahrerloses Transportsystem, dessen Herz unsere Cloud ist“, wird wenig später Jörg Hermes sagen. Er ist Produktionschef von SEW Eurodrive. Das Computersystem nimmt die Bewegungsdaten des Roboters auf, wertet sie aus und schickt sie ihm dann wieder zurück. Bekommt er ein bestimmtes Zeichen, weiß er genau, was er zu tun hat. Der Rechner macht es möglich. „Mit den Daten kann man nicht nur einen einzelnen Roboter steuern, sondern auch eine ganze Fabrikproduktion lenken“, sagt Hermes. Er muss es wissen.

Ein Unternehmen aus dem deutschen Mittelstand: familiengeführt, hundert Jahre alt und in aller Welt tätig. Es erlöst viereinhalb Milliarden Euro Umsatz im Jahr und beschäftigt 22.000 Mitarbeiter. Ein „globaler Player“ und „Hidden Champion“. Während Hermes von Digitalisierung, Automatisierung und datenbasierten Wertschöpfungsketten spricht, zeigt Jelena Hocke, was damit gemeint ist: Daten am Fließband, Maschinen sprechen mit Maschinen, Roboter übernehmen die Arbeit.

40 Milliarden Euro jedes Jahr für die smarte Fabrik

Ingenieure nennen das gern auch die „Smart Factory“, die kluge Fabrik. Die ersten Konzepte waren vor zwanzig Jahren in Deutschland entwickelt worden, vom Softwarehaus SAP, von Siemens und Bosch. Später stiegen auch Chinesen und Amerikaner ein. Heute ist die sogenannte Industrie 4.0 noch nicht ganz aus den Kinderschuhen, doch schon ein riesiger Markt. Allein in Deutschland sind nach Angaben des Beratungshauses PWC Jahr für Jahr bis zu 40 Milliarden Euro in verschiedene technische Entwicklungen smarter Fabriken geflossen. In Computer-, Daten- und KI-Systeme, in Programme und Algorithmen, Maschinen und Anlagen. Und es gibt hierzulande sogar einen Verein für das Fabriksystem von morgen.

An dessen Spitze steht Martin Ruskowski. Im Hauptberuf ist er Professor für Maschinenbau, im Nebenberuf führt er als ehrenamtlicher Chef den Smart-Factory-KL e.V. in Kaiserslautern. Ein Club der besonderen Art. Hier treffen Forscher auf Unternehmer und Wissenschaftler auf Ingenieure. Hier trifft Theorie auf Praxis – und die hat es in sich. Der Verein hatte sich schon vor zwanzig Jahren die Entwicklung KI-basierter Fertigungsmethoden auf die Fahnen geschrieben. Heute zählt er vierzig Mitglieder. Industriepioniere mit Namen wie Siemens, Bosch Rexroth oder Rittal.

„Alle arbeiten auf Augenhöhe miteinander“, sagt Ruskowski. Es gebe keine Privilegien, aber viel Teamarbeit: „Wir haben alle ein Ziel: Wir wollen der Industrie 4.0 zum Durchbruch verhelfen.“ Schon heute sei die durchdigitalisierte und vollautomatische Fabrik auf dem Papier möglich. Nun gewinne sie auch in der Realität an Form und Gestalt. Datenräume seien errichtet, IT-Plattformen angelegt und Kommunikationsnetze gespannt.

Daten als Werkzeug

„Wir sind im Rahmen eines Vereins organisiert, weil das die beste Möglichkeit ist, über das eigentliche Tagesgeschäft hinaus zusammenzuarbeiten“, sagt Ruskowski. Es gehe nicht um Wettbewerb und Marktanteile, nicht um Umsatz und Gewinn; es gehe darum, die klügsten Köpfe an einen Tisch zu bringen, um an technischen Lösungen für überaus knifflige Probleme zu arbeiten. Wie smart kann eine smarte Fabrik sein? Wie lassen sich Maschinen mit Daten steuern? Wie lernt ein Roboter?

Die Antworten liegen in den Daten. „Wir machen sie zu einem Werkzeug“, sagt Ruskowski. Dafür seien im Verein neue Wertschöpfungsketten geknüpft, spezielle Techniken und Systeme getestet, technische Standards erarbeitet, Modell- und Pilotanlagen entwickelt, verbessert und verfeinert worden. So, wie sich künftig ein Auto ganz ohne Fahrer am Steuer durch den Verkehr lenkt, so wird die Arbeit in einer Fabrik ganz ohne Menschen verrichtet. „In diesem Jahr zeigen wir in Hannover, wie das möglich ist“, sagt Martin Ruskowski.

Er steht vor einem der großen Vorzeigeprojekte. Eine kleine Produktionsinsel. Sie trägt den Namen Phuket, ahmt die Fertigung in einer Fabrik nach und befindet sich unter einem großen Kasten aus Plexiglas. Das System besteht aus einem kurzen Fließband und fünf Industrierobotern. Alles ist mit allem vernetzt und verdrahtet; jedes Teil wurde mit Sensoren bestückt. Jede Bewegung liefert digitale Daten in den Rechner. Der erfasst und analysiert sie, bevor er sie zurück zu den Robotern und zum Fließband schickt. Eine Art Datenkreislauf, sagt der Leiter der Smart Factory. Damit könne sich die ganze Anlage selbst steuern, auf Engpässe oder Überschüsse reagieren, langsamer oder schneller arbeiten. Es sind Innovationen vom Feinsten.

Die deutsche Industrie mag seit drei Jahren ein tiefes Tal durchschreiten, an Innovationskraft habe sie noch nicht verloren, sagt Peter Leibinger in Hannover. Der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) und Aufsichtsrat des Maschinenbauers Trumpf beschwört auf der Messe in Hannover geradezu den Erfindergeist hiesiger Unternehmen. Berlin müsse seine Hausaufgaben machen, sagt er, und die Finger vom „Mikromanagement der Innovationsindustrien“ lassen. Die Ingenieure, Techniker und Manager wüssten schon, was zu tun sei.

Im Zentrum steht die Datencloud

„Wir haben ein klares Ziel“, sagt Hermes, Produktionschef von SEW Eurodrive: „Wir wollen in den technischen Entwicklungen weiterhin ganz vorn mitmischen. Wir wollen unsere Datencloud zum digitalen Zentrum aller unserer einzelnen Produkte machen. Und mit uns können sich unsere Kunden komplett durchdigitalisieren und durchautomatisieren.“ Derweil holt Jelena Hocke mit einer kurzen Handbewegung den kleinen Roboter wieder an ihre Seite. Er bleibt stehen und fährt den Motor herunter.