Rückblickend kann der Appell von Alfons Mais am 24. Februar 2022, dem Tag des russischen Großangriffs auf die Ukraine, als Beginn der „Zeitenwende“ angesehen werden. Er habe in seinem 41. Dienstjahr in Frieden nicht geglaubt, noch einen Krieg erleben zu müssen, schrieb der Inspekteur des Heeres damals. „Und die Bundeswehr, das Heer, das ich führen darf, steht mehr oder weniger blank da.“ Seitdem ist viel passiert: Das 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen für die Bundeswehr ist praktisch komplett gebunden. Außerdem hat Deutschland mittlerweile die Schuldenbremse für Verteidigungsausgaben gelockert. „Whatever it takes“, rief der wahrscheinlich nächste Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU).
Und offenbar braucht es noch viel, um zumindest die Landstreitkräfte kriegstauglich zu machen. „Es geht uns heute materiell nicht wesentlich besser als im Februar 2022“, sagt Mais der F.A.Z. Das liege daran, dass man insbesondere in den Jahren 2022 und 2023 vieles an die Ukraine abgegeben habe, noch bevor die Industrie hochgefahren wurde. Ersatz für die abgegebenen Waffensysteme sei zwar nachbestellt. „Aber die sind eben noch nicht ausgeliefert“, so Mais. Zwar seien allein im vergangenen Jahr 50 25-Millionen-Euro-Vorlagen für die Landstreitkräfte an den Bundestag übermittelt worden. Doch bis das Gerät tatsächlich ankommt, „müssen wir uns noch ein bisschen gedulden, weil die Industrie das ja erst mal produzieren muss“. Bislang seien das nur unterschriebene Verträge und Bestellungen.
Freilich begrüßt Mais den zusätzlichen Geldregen, der nun auf das Heer zukommen könnte. „Während das Sondervermögen vor allem dem Lückenschluss nach hinten gedient hat, ermöglicht uns die neue finanzpolitische Aussicht, sich der Modernisierung, Digitalisierung und den neuen Erkenntnissen aus dem Ukrainekrieg noch intensiver zu widmen“, sagt Mais.
Mais will die „Fähigkeitslücke“ bei der Drohnenabwehr schließen
Der Inspekteur des Heeres nennt drei Prioritäten: Zunächst gehe es darum, die Führung der Landstreitkräfte durch Digitalisierung zu verbessern. Das reiche von neuen Funkgeräten über moderne, hochmobile Gefechtsstände bis hin zu Kommunikationsnetzen für ein modernes Gefechtsfeld. Dadurch sollen trotz elektronischer Störversuche Befehle und Meldungen übermittelt werden, ohne dass der Gegner diese entschlüsseln kann. Dies alles sei bislang nur „punktuell“ erfolgt und nur für eine Division bis Ende 2027 projektiert, sagt Mais. Es gehe nun darum, die bisherigen Planungen rasch auf alle Teile der Landstreitkräfte auszuweiten.
Als Zweites soll die „Fähigkeitslücke“ bei der Drohnenabwehr geschlossen werden. Der Ukrainekrieg hat gezeigt, wie wichtig die Verteidigung gegen unbemannte Fluggeräte ist. Aber das deutsche Heer steht hier weitgehend wehrlos dar. „Denn wir haben in Zeiten des Afghanistan-Einsatzes praktisch unsere komplette Heeresflugabwehr aufgegeben“, sagt Mais. Die Taliban hätten schließlich keine Luftfahrzeuge eingesetzt, gegen die die Truppe sich hätte verteidigen müssen. Das Heer hat den Flugabwehrkanonenpanzer Gepard, der nun in der Ukraine äußerst effizient Drohnen abwehrt, schon vor mehr als einem Jahrzehnt außer Dienst gestellt; das leichte Flugabwehrsystem Ozelot wurde 2012 an die Luftwaffe überführt.
Doch nun habe die Aufstellung der Flugabwehr wieder „extrem hohe Priorität“, betont Mais. Und zwar in allen Bereichen: von der Verteidigung gegen tieffliegende Fluggeräte bis zur Raketenabwehr, die von der Luftwaffe sichergestellt werden soll, nicht nur durch amerikanische Patriots, sondern künftig auch mit israelischen Arrow 3 und deutschen IRIS-T-Systemen unterschiedlicher Reichweite.
Welche Luftverteidigungssysteme braucht das Heer?
Patriots zählen zu den besten Luftverteidigungssystemen der Welt, sie können bis zu fünf Ziele gleichzeitig in einer Entfernung von rund 70 Kilometern bekämpfen: Flugzeuge, ballistische Raketen und Marschflugkörper. Auch IRIS-T hat sich wie die Patriot-Systeme bereits in der Ukraine bewährt. Mit einer hohen Feuerkraft und Trefferquote sowie einer Reichweite von vierzig Kilometern soll es bewohnte Gebiete, Gebäude und Anlagen schützen. Arrow 3 kommt dagegen in der oberen Abfangschicht zum Einsatz. Es ist darauf ausgelegt, ballistische Raketen in einer Höhe von 100 Kilometern abzuschießen.
Mit der Neuaufstellung der Heeresflugabwehrtruppe, die 2012 aufgelöst wurde, sollen sich auch die Landstreitkräfte wieder gegen Bedrohungen aus der Luft wehren können. Sie soll im Ernstfall Kampftruppen am Boden begleiten. Laut Mais will sich das Heer künftig mit den Flugabwehrsystemen IRIS-T SLS kürzerer Reichweite und dem Skyranger 30 von Rheinmetall rüsten. Skyranger soll als mobile Einheit auf dem Radpanzer Boxer montiert werden und die Lücke schließen, die der Gepard hinterlassen hat.
IRIS-T SLS wurde allerdings noch nicht bestellt. Von Skyranger hat die Bundeswehr zwar kürzlich ein sogenanntes Nachweismodell erhalten. Das wird die Truppe allerdings nie sehen. Es dient dem Beschaffungsamt der Bundeswehr in Koblenz zur Prüfung der Betriebssicherheit, der Zulassung auf der Straße und anderer gesetzlicher Auflagen. Man werde noch mindestens ein Jahr warten müssen, sagt Mais, bis die erste Serienauslieferung beginnt. Bis 2028 sollen 18 weitere Skyranger an die Bundeswehr übergeben werden, mit der Option, 30 zusätzliche Systeme zu bestellen. „Da habe ich natürlich die Hoffnung, dass die mit dem neuen Finanzrahmen möglichst schnell abgerufen werden können“, sagt Mais. Aber selbst das sei nur der Anfang für ein erstes Heeresflugabwehrbataillon.
Heeresinspekteur: Aufklärungsdrohnen reichen nicht mehr aus
Die Bundeswehr will mit dem zusätzlichen Geld aber nicht nur in defensive Maßnahmen investieren, sondern auch weitere Offensivwaffen beschaffen. Als dritte Priorität neben der Digitalisierung und Luftverteidigung nennt Generalleutnant Mais die Fähigkeit, „Wirkung in der Tiefe“ zu erzielen, über weitreichende Artillerie oder Kampfdrohnen. Bislang verfügt das Heer nur über Aufklärungsdrohnen. Das reiche heutzutage aber nicht mehr aus, sagt Mais. Die Bundeswehr sei bei der Elektronik, KI, Steuerbarkeit und dem Einsatz von Drohnenschwärmen hinterher. Mais wünscht sich für das Heer schon auf den unteren taktischen Ebenen „loitering munition“, auch bekannt als sogenannte Kamikazedrohnen. Das sind unbemannte Fluggeräte, die mit einer Sprengladung ausgestattet über einem Gebiet kreisen und schließlich in ihr Ziel stürzen. In der Ukraine werden diese von beiden Kriegsparteien eingesetzt.
„Wenn unser Heer auf dem modernen Gefechtsfeld bestehen will, werden auch wir die gesamte Palette drohnengestützter Fähigkeiten brauchen“, sagt Mais. Es gehe darum, „das Gefecht viel früher und jenseits der direkten Sichtlinien aufnehmen zu können und damit die Überlebensfähigkeit der eigenen Truppe zu erhöhen“. Der Bedarf werde in der Bundeswehr klar gesehen und müsse nur noch in Beschaffungsentscheidungen umgesetzt werden. Mais zeigt sich zuversichtlich, dass dies bald geschehen wird. Nach der Lockerung der Schuldenbremse sei er „optimistischer, als ich das vorher noch war“. Jenseits dieser Prioritäten gehe es unverändert darum, „mit höchstem Nachdruck die der NATO zugesagten Truppenteile ganzheitlich, vollständig und möglichst modern auszustatten sowie gleichzeitig die Einsatzbereitschaft der Heimatschutzverbände zu verbessern“.
Die Frage, ob die Bundeswehr auf dem Schlachtfeld bestehen könnte, stellt sich umso drängender, da die Diskussion über eine mögliche Friedenstruppe in der Ukraine zuletzt an Fahrt aufgenommen hat. Mais will sich nicht dazu äußern, ob das Heer für eine solche Mission gerüstet wäre. Sorge bereitet ihm aber die Zeit, die es noch brauche, um die Prioritäten für die Landstreitkräfte umzusetzen. Bei allem, was kurzfristig an „kritischen Aufträgen“ an der Ostflanke entstehen könne, seien Munition und Drohnenabwehr Schlüsselfaktoren. „Aktuelle Fähigkeitslücken könnten wir dann nur im multinationalen Verbund mit unseren Partnern überbrücken.“