SPD und Union nach der Ampel: Wer beseitigt die Sozialstaatsfalle?

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An politischen Programmsätzen herrscht kein Mangel, wenn es um Respekt vor Arbeit geht: „Leistung muss sich lohnen“, lautet einer. „Wer mehr arbeitet, soll auch mehr Einkommen haben“, lautet ein anderer. Aber Hunderttausende Familien erleben im Alltag etwas anderes. Die politischen Ansprüche scheitern – am Sozialstaat. Für eine vierköpfige Familie in München etwa so: Steigt der monatliche Bruttolohn des alleinverdienenden Vaters von bisher 4000 Euro um acht Prozent auf 4320 Euro, „so führen die aktuellen Regelungen zu einer Senkung des verfügbaren Haushaltseinkommens um vier Euro“.

Das zeigt ein Gutachten des wissenschaftlichen Beirats beim Bundesfinanzministerium, und es ist nur ein Beispiel für eine mittlerweile breit erforschte Sozialstaatsfalle. Sie trifft Haushalte, die für den Lebensunterhalt neben Arbeitslohn ergänzende Sozialleistungen wie Bürgergeld oder Wohngeld und Kinderzuschlag erhalten. Steigern sie ihren Bruttolohn – sei es durch mehr Arbeitsstunden oder beruflichen Aufsteig – fallen Sozialleistungen weg. Das soll zwar im Prinzip so sein, nimmt aber oft unverständliche Ausmaße an. Für eine vierköpfige Familie in Leipzig lohnt sich zusätzliches Ar­beitseinkommen faktisch nicht, solange sie sich damit im Bereich zwischen 2410 bis 4030 Euro im Monat bewegt. Auch das weist jenes Gutachten von 2023 aus.

Koalition plant neue Regeln bei Mehrarbeit

Die sozialpolitische Ar­beitsgruppe der schwarz-roten Koalitionsunterhändler hat insofern nun ein bemerkenswertes Vorhaben formuliert. Jenseits allen Streits über Rente und arbeitsrechtliche Regulierungen schrieb sie in ihr Verhandlungspapier: „Wir wollen, dass für Bezieherinnen und Bezieher von Sozialleistungen (…) immer Anreize bestehen, ein höheres Erwerbseinkommen zu erzielen.“ Dazu wolle man „die Schnittstellen zur Grundsicherung in den Blick“ nehmen und die sogenannten Hinzuverdienstregeln reformieren. „Dazu gehört auch, die Transferentzugsraten in den unterschiedlichen Leistungssystemen besser aufeinander abzustimmen.“

Das Wort „Transferentzugsrate“ bezeichnet den Kern des Problems: Liegt sie über 100 Prozent, dann bedeutet dies, dass Sozialleistungsansprüche um mehr als 100 Euro sinken, wenn ein Haushalt 100 Euro zusätzlichen Ar­beitslohn erzielt. Aber auch Entzugsraten von 80 oder 90 Prozent sind problematisch, wenn man bedenkt, dass bei der Einkommensteuer schon Grenzbelastungen von 50 Prozent als leistungsfeindlich gelten. In der Grundsicherung, früher Hartz IV, heute Bürgergeld, ist es seit 20 Jahren so, dass Lohnerhöhungen zu 100 Prozent mit der Sozialleistung verrechnet werden, sobald der Verdienst mehr als 1500 Euro im Monat beträgt. Eine vierköpfige Familie hat aber bis zu einer Höhe von ungefähr 3000 Euro Anspruch auf staatliche Transfers.

Das Problem beschränkt sich nicht aufs Bürgergeld. Besonders hohe Transferentzugsraten treffen viele Familien, die stattdessen die Sozialleistungen Wohngeld und Kinderzuschlag beziehen. Beide Leistungen werden bis zu je unterschiedlichen Verdienstobergrenzen gewährt, die Grenze beim Wohngeld hängt auch vom regionalen Mietenniveau ab. Wenn Familien diese Grenzen durch Lohnsteigerungen überschreiten, kommen zuweilen Abzüge von mehr als 100 Prozent heraus. Noch verwirrender wird es, weil Familien oberhalb der Grenzen für Wohngeld und Kinderzuschlag oft immer noch Anspruch auf Bürgergeld haben, allerdings dann in dem Bereich mit 100 Prozent Transferentzug.

Andreas Peichl, Wirtschaftsforscher und Sozialstaatsfachmann des Ifo-Instituts, wirbt seit vielen Jahren für eine Reform, die diese Probleme löst. Es sei überfällig, „dass sich Arbeit in diesem Bereich endlich lohnt und den arbeitswilligen Sozialleistungsempfängern endlich mehr netto vom Brutto übrig bleibt“, sagte er der F.A.Z. Obwohl leicht einleuchte, „dass eine Grenzbelastung von 100 Prozent den Anreiz zur Arbeitsaufnahme hemmt, hat sich an diesem Problem in den vergangenen Jahrzehnten kaum etwas geändert“. Insofern sei es ein wichtiges Signal, dass das Papier der Koalitionsarbeitsgruppe in dieser Hinsicht Einigkeit dokumentiere. Peichl hat das Gutachten fürs Finanzministerium mitverfasst; ebenso wie weitere Gutachten für das Sozial- und das Wirtschaftsministerium.

Allerdings gibt es mittlerweile Erfahrungswerte, die an solchen politischen Signalen zweifeln lassen. Auch darauf weist er hin: Schon im Ampel-Koalitionsvertrag von 2021 war dasselbe Vorhaben sehr verbindlich formuliert: „Wir werden eine Reform auf den Weg bringen, die Bürgergeld, Wohngeld und gegebenenfalls weitere steuerfinanzierte Sozialleistungen“ besser „aufeinander abstimmt beziehungsweise wo möglich zusammenfasst“. Transferentzugsraten von 100 und mehr Prozent würden „ausgeschlossen.“

Tatsächlich ist es aber so, dass die Ampelkoalition das Problem verschärft hat. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) setzte die nach rot-grünen Vorstellungen gestaltete Bürgergeldreform um und zementierte dort die 100 Prozent Transferentzug. Familienministerin Lisa Paus (Grüne) kämpfte erbittert für eine Kindergrundsicherung, die das Problem weiter verschärft hätte. Und Bauministerin Klara Geywitz (SPD) setzte ihre Wohngeldreform durch. Die brachte zwar 1,4 Millionen zusätzlichen Haushalten Anspruch auf Zuschüsse zu den Wohnkosten. Entsprechend stark wuchs aber auch der Kreis derjenigen, für die sich Mehrarbeit nun kaum noch lohnt.

Vereinbarung im Koalitionsvertrag bringt wenig, wenn zuständige Minister nicht mitspielen

Das Thema „Transferentzug“ hingegen blieb dreieinhalb Jahre lang unbearbeitet liegen. Die FDP, die es 2021 auf die Ampelagenda gesetzt hatte, gewann damit Erfahrungen, die nun auch der CDU zu denken geben: Zeigt der fachlich zuständige Minister, damals SPD-Mann Heil, kein Interesse an so einem Thema, dann nützt selbst die klarste Vereinbarung im Koalitionsvertrag wenig. Zwar kann ein Regierungspartner Gesetzentwürfen des anderen Partners seine Zustimmung verweigern, wenn diese umstritten sind. Er hat aber kaum Hebel, erwünschte Gesetzesvorhaben anzuschieben, falls der zuständige Fachminister von der anderen Seite einfach nicht liefern will.

Verschärfend kommt stets ein Kompetenzproblem hinzu: Das Sozialressort ist zwar fürs Bürgergeld zuständig, nicht aber fürs Wohngeld (Bauen und Wohnen) und den Kinderzuschlag (Familienministerium). Und deren Ressortchefs nutzen traditionell gerne ihre damit verbundene Chance, sich auch einmal sozialpolitisch zu profilieren. Umso weniger passt am Ende sozialpolitisch zusammen. „Idealerweise würde man alle drei Leistungen in einem Sozialministerium bündeln und dann in eine Leistung aus einem Guss integrieren“, mahnt Peichl.

So haben es der Beirat beim Finanzministerium, die Ifo-Gutachten und ebenso der Normenkontrollrat der Bundesregierung immer wieder angemahnt. Manche Beobachter hoffen nun, dass die von Uni­on und SPD erwogene Eingliederung des Bauressorts in ein Infrastrukturministerium mehr Flexibilität im Umgang mit dem Wohngeld schaffen könnte. Auch das wäre aber nur ein erster Schritt. Um alles aufeinander abzustimmen, müsste das Sozialministerium fürs Wohngeld zuständig werden. Genauso müsste das Fa­mi­li­enressort den Kinderzuschlag abtreten. Und vor allem müsste die Leitung des Sozialministeriums den festen Willen haben, die Beispielfamilien aus München und Leipzig aus der „Sozialstaatsfalle Transferentzug“ herauszuholen.