Der Koalitionsvertrag von CDU und SPD im Bund steht, und die hessischen Christdemokraten sehen darin eine „gute Basis, um Deutschland wieder nach vorne zu führen.“ Das hat der CDU-Landesvorsitzende und Hessische Ministerpräsident Boris Rhein mitgeteilt, nachdem die Ergebnisse in Berlin bekannt wurden. Für Rhein steht fest: „Dieser Koalitionsvertrag trägt in wesentlichen Punkten eine klare hessische Handschrift. Wir konnten alle zentralen Punkte unserer hessischen Union durchsetzen, die dazu beitragen, unser Land sicherer, souveräner und sozialer zu machen.“ Die Opposition spricht von einer vertanen Chance.
Beispielhaft für mehr Sicherheit führte Rhein die KI-gestützte Videoüberwachung an, künftige Abschiebungen auch nach Syrien und Afghanistan sowie dauerhafte Abschiebehaft für ausreisepflichtige Straftäter und die IP-Adressdatenspeicherung. Diese hatte die Hessen-CDU seit Langem gefordert, um etwa gegen Kinderpornographie vorgehen zu können. Weiter lobte der Ministerpräsident die Senkung der Energiepreise, die Entlastung der Luftfahrtindustrie und die Förderung der Kernfusion.
Das Vorhaben, eine Integrationsvereinbarung mit Migranten zu schließen, begrüßte Rhein. Integration sei die Bringschuld derer, die integriert werden wollten. Die neue Bundesregierung, so Rhein, werde vom ersten Tag an Verantwortung übernehmen und damit ein Kontrastprogramm zur Ampel bieten. „Kurs statt Chaos“, kündigte er an, und ergänzte: „Ich bin sicher, dass es mit Deutschland wieder aufwärts geht.“
Grüne vermissen Finanzierung für die Versprechungen
Die Reaktion der hessischen Grünen fällt erwartungsgemäß anders aus. „Der Koalitionsvertrag ist ein Sammelsurium von Absichtserklärungen, aber keine wirkliche Perspektive für unser Land“, monierte der Fraktionsvorsitzende im Landtag, Mathias Wagner. Es fehle – mit Ausnahme des Sondervermögens Infrastruktur – jegliche Finanzierung für die Versprechungen. Wie in Hessen drohten nun auch im Bund mit CDU und SPD Stillstand und Rückschritt, warnte Wagner. „Es spricht Bände, dass die Menschheitsaufgabe Klimaschutz in der Pressekonferenz erst nach einer Dreiviertelstunde zum ersten Mal halbherzig von Saskia Esken erwähnt wurde.“ Friedrich Merz habe im Wahlkampf in Bezug auf Investitionen und Schulden die Unwahrheit gesagt. „Dieser Makel bleibt und wiegt schwer.“
Nach Meinung der FDP ist die Berliner Vereinbarung wenig ambitioniert. „Auf 144 Seiten schwarz-rotem Koalitionsvertrag ist wenig zu finden, was Deutschland voranbringt.“ CDU und SPD fehle der Mut zu den Reformen, die das Land dringend brauche: „Entlastung, Reform des Sozialstaats und Bürokratieabbau“, sagt Generalsekretär Moritz Promny. Nach dem „Wortbruch“ der Union bei der Schuldenbremse bleibe nun auch die versprochene Wende bei Wirtschaft und Migration aus. „Friedrich Merz hat die Chance vertan, Deutschland durch echte Reformen auf eine neue Weltordnung vorzubereiten.“
Noch deutlicher wird die AfD in ihrer Kritik. „Dieser Koalitionsvertrag ist fortgesetzte Wirklichkeitsverdrängung und er enthält nicht, was die Mehrheit will.“ Die CDU habe nichts von dem gehalten, was sie versprochen habe. „Wenn Boris Rhein das gelungen findet, ist er in der falschen Partei“, sagte Fraktionschef Robert Lambrou. Es gebe keine echte Migrationswende, keine echten Steuerentlastungen für die Wirtschaft und die Bürger und auch keine Rückkehr zur Kernkraft, damit Energie wieder sicher und bezahlbar werde, so Lambrou. Die Mehrheit habe Mitte-rechts gewählt und bekomme nun eine linke Regierung.
Unternehmer nur bedingt zufrieden
Die Vereinigung der hessischen Unternehmerverbände (VhU) ist mit dem Koalitionsvertrag nur bedingt zufrieden und fordert, im Regierungshandeln noch mehr Wert auf Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum zu legen. Präsident Wolf Matthias Mang sagte: „Deutschland und seine freiheitliche Demokratie stehen erheblich unter Druck, sei es durch die militärische Bedrohung aus Russland, durch die Verwerfungen im Welthandel oder durch das Erstarken der politischen Ränder.“ Daher sei es gut, dass Union und SPD sich ihrer Verantwortung stellten. Die Herausforderungen könne Deutschland nur aus einer Position der wirtschaftlichen Stärke erfolgreich bewältigen. „Der vorgelegte Koalitionsvertrag bietet dafür Ansätze, bleibt aber bei wesentlichen Weichenstellungen deutlich hinter den Notwendigkeiten zurück.“
Auch die Bewertung des Hessischen Industrie- und Handelskammertags (HIHK) ist eher durchwachsen. „Die Wirtschaft war eines der zentralen Themen aller Parteien im Bundestagswahlkampf, doch der Koalitionsvertrag fällt im Vergleich dazu spürbar ab“, sagte Präsidentin Kirsten Schoder-Steinmüller. Sie appellierte an die neue Bundesregierung, rasch Vertrauen zurückzugewinnen. Deutschland stecke im dritten Jahr der Rezession. Die Betriebe erwarteten keine Ankündigungen, sondern konkrete Maßnahmen. „Die Zeit für reine Lippenbekenntnisse ist vorbei“, sagte Schoder-Steinmüller.
„Der Koalitionsvertrag kann die CDU befrieden“, ist Yannick Schwander überzeugt, stellvertretender Kreisvorsitzender der Frankfurter CDU. Nach den Beschlüssen zum Sondervermögen habe es durchaus „Gegrummel“ an der Parteibasis gegeben. „Doch im Koalitionsvertrag finden sich jetzt viele Punkte zu Wirtschaftspolitik aus unserem Wahlprogramm.“ Die beabsichtigte Senkung der Energiepreise etwa sei gerade für die Unternehmen im Industriepark Höchst wichtig.
Schwander, der auch Stadtverordneter in Frankfurt ist, hält es für wichtig, dass die Investitionsmittel bei den Kommunen ankommen. „Sie müssen ihren Handlungsspielraum behalten.“ Zuversichtlich stimmt ihn, dass die Förderprogramme für Städte und Gemeinden vereinfacht werden sollen. Die Ankündigungen zur Migrationspolitik, etwa die Aussetzung des Familiennachzugs, „hören sich gut an“, findet Schwander. „Es kommt aber auf die Umsetzung an.“ Mit einem Punkt ist er nicht zufrieden: „Wir brauchen eine echte Rentenreform.“ Doch zu einer Aktienrente oder ähnlichen Modellen sei nichts vereinbart worden. „Das können wir uns eigentlich nicht erlauben.“
Die Frankfurter SPD-Fraktionsvorsitzende Ursula Busch sagte, man werde sich den Koalitionsvertrag im Detail anschauen und seine Auswirkungen auf die größte Stadt Hessens prüfen. „Es zählen nicht nur die Überschriften.“ Wichtig sei, dass auf die Kommunen keine weiteren Belastungen zukämen. „Wir ächzen schon durch die Vorgaben des Landes und teilweise des Bundes.“ Obwohl Frankfurt über vergleichsweise hohe Einnahmen verfüge, könne es insbesondere die Aufwendungen für die Betreuung von Geflüchteten, die Wohnraumförderung und Arbeitsmarktmaßnahmen allein nicht mehr schultern. Einen Erfolg der Berliner SPD-Verhandler sieht Busch darin, „dass es uns gelungen ist, sieben wichtige Ministerien zu besetzen.“
Linke: „mutlos, fantasielos und ohne soziale Verantwortung“
Für die Frankfurter Grünenvorsitzende Julia Frank wäre es ein Fortschritt, wenn bei den Kommunen mehr Geld ankäme. Sollte Kindern mit Anspruch auf das Bildungs- und Teilhabepaket tatsächlich ein unentgeltliches Mittagessen in den Schulen bereitgestellt werden, fände Frank das gut. Die Migrationspolitik der künftigen Koalition hingegen sei eine „Katastrophe“. Das Aussetzen des Familiennachzugs werde die Integration erschweren. Der Vertrag sei zudem eine Absage an Klima- und Artenschutz und zeige keinen Plan für die Energiewende.
„Hehre Worte, richtige Analysen, aber wenig Greifbares für die Kommunen“ erkennt der Vorsitzende der Frankfurter FDP, Thorsten Lieb, im Koalitionsvertrag. Was der versprochene Zukunftspakt für Städte und Gemeinden bedeute, sei offen. Wenn zum Beispiel eine Milliarde Euro für die Modernisierung von Sportstätten versprochen werde, bedeute dies eine Verfünffachung der bisherigen Mittel. „Ob das aus dem Haushalt oder dem Sondervermögen kommt, ein Einmalprojekt oder dauerhaft ist, bleibt unklar.“
Als „mutlos, fantasielos und ohne soziale Verantwortung“ bezeichnete Michael Müller, Linken-Fraktionsvorsitzende im Römer, den Koalitionsvertrag. Unternehmen profitierten von der Senkung der Körperschaftsteuer, während am Bürgergeld gekürzt werde und am Wohnungsmarkt „regulierende Eingriffe wie ein Mietendeckel“ ausblieben. Die Interessen der Kommunen würden nicht ausreichend berücksichtigt, so Müller, etwa in der Frage einer Weiterentwicklung der Gewerbesteuer. „Der einfachste Weg dafür, nämlich den Anteil für Städte und Gemeinden bei Gemeinschaftssteuern zu erhöhen, findet sich nicht im Koalitionsvertrag.“