Hohe Verluste an Personal gegen geringe Geländegewinne“ – so beschreibt ein leitender NATO-Beamter die russische Strategie im Krieg gegen die Ukraine. Daran habe sich in mehr als drei Jahren nichts geändert, obwohl es in der Kampftaktik viele Anpassungen gegeben habe. Westliche Geheimdienste schätzen, dass Russlands Tagesverluste im März bei 1255 lagen. Insgesamt sollen seit Kriegsbeginn nunmehr 910.000 russische Soldaten außer Gefecht gesetzt und davon etwa 250.000 getötet worden sein. Über die ukrainischen Verluste sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj Anfang Februar, dass 390.000 Soldaten verletzt und 45.000 gefallen seien. Darüber machen westliche Dienste keine Angaben, die ukrainischen Angaben gelten aber als realistisch. Die russischen Verluste sind höher, weil sich die Soldaten bei ihren Angriffen stärker exponieren müssen und von ihrer Führung hohen Risiken ausgesetzt werden.
Trotzdem ist Moskau daraus bisher kein Nachteil erwachsen. Die Russen können ihre Kräfte durch die ständige Rekrutierung neuer Soldaten ersetzen. Sie erzielen nach Angaben des NATO-Beamten auch weiterhin taktische Geländegewinne, und zwar im gesamten Gebiet Donezk: von Torezk über Tschassiw Jar bis nach Lyman im Norden. Sie kamen auch östlich und südöstlich von Pokrowsk bei ihrem Versuch voran, die strategisch bedeutsame Stadt einzukreisen, wenn auch nur langsam. In den Gebieten Saporischschja und Charkiw gelang es den Ukrainern dagegen, Vorstöße abzuwehren. Hier wechseln kleinere Territorien immer mal wieder die Seiten. Zusammenfassend sagt der Beamte: „Die Lage auf dem Gefechtsfeld bleibt sehr schwierig, aber wir erwarten in den nächsten Monaten keinen größeren Frontdurchbruch der Russen.“
Neuer ukrainischer Vorstoß in Belgorod
Die ukrainischen Streitkräfte mussten sich ihrerseits weitgehend aus der russischen Grenzregion Kursk zurückziehen, wo sie im August vorigen Jahres eingedrungen waren und rund 900 Quadratkilometer Land erobert hatten. Selenskyj wollte auf diese Weise ein Faustpfand für Verhandlungen gewinnen – eine Strategie, die seine westlichen Verbündeten nie sonderlich überzeugt hat. Inzwischen mussten die Ukrainer mehr als neunzig Prozent der Gebiete wieder aufgeben, sie führen nur noch Verzögerungsgefechte, und die vollständige Aufgabe des Terrains ist absehbar. Die Russen haben nach Angaben des NATO-Beamten dort 67.000 Truppen eingesetzt, darunter 11.000 nordkoreanische Soldaten. Die Nordkoreaner hätten in den Kämpfen 5000 Mann eingebüßt, davon seien 1500 gefallen, sagt ein weiterer westlicher Vertreter. Er hat wie der NATO-Mann Zugang zu geheim eingestuften Informationen und ist befugt, darüber zu sprechen, darf aber nicht näher identifiziert werden.
Nach Angaben des westlichen Vertreters unternahmen ukrainische Einheiten seit dem 18. März einen weiteren Vorstoß auf russisches Territorium im benachbarten Gebiet Belgorod. Sie haben dort relativ mühelos Panzersperren durchbrochen, wie Videos in sozialen Netzwerken nahelegen. Die Ukrainer kontrollieren aber nur 60 bis 80 Quadratkilometer. Es handelt sich wohl um einen Entlastungsangriff, der die Russen dazu verleiten soll, Truppen aus Kursk zu verlegen.
Westliche Dienste verfolgen aufmerksam Berichte über chinesische Soldaten, die für Russland kämpfen. Selenskyj hatte am Dienstag die Gefangennahme von zwei Chinesen in russischer Uniform vermeldet. Am Mittwoch verbreitete er ein Video von der Befragung der beiden Männer und teilte mit, dass sein Land präzise Angaben zu 150 Chinesen habe, die auf russischer Seite in den Krieg verwickelt seien. Die tatsächliche Zahl liege noch höher. Eine solch „offenkundige Beteiligung chinesischer Staatsbürger an Feindseligkeiten auf ukrainischem Territorium“ sei „ein bewusster Schritt zur Ausweitung des Krieges“, sagte er, ohne jedoch die chinesische Führung direkt zu beschuldigen. Man werde über diplomatische Kanäle Kontakt zu Peking aufnehmen. Nach Angaben des westlichen Vertreters gibt es bisher keine Hinweise darauf, dass der Einsatz gezielt von der chinesischen Führung angeordnet wurde.
10.500 Gleitbomben seit Jahresbeginn
Was sich an der Front geändert hat, ist das taktische Vorgehen. Beide Seiten setzen immer stärker auf den Einsatz von Drohnen und erzielen damit mehr Wirkung als mit Artillerie. Russland setzt jeden Tag mehr als einhundert größere unbemannte Flugkörper ein. Immer öfter werden auch Drohnen mit kurzer Reichweite eingesetzt, die per Glasfaserkabel gesteuert werden und daher elektronisch nicht gestört werden können. „Inzwischen gehen 70 bis 80 Prozent der Verluste, die Ukrainer und Russen auf dem Gefechtsfeld erleiden, auf Drohnen zurück“, so der westliche Vertreter. Auf beiden Seiten werde weiterhin auch Energieinfrastruktur zerstört – ungeachtet der beschränkten Waffenruhe, die US-Präsident Donald Trump und der russische Präsident Wladimir Putin am 18. März vereinbart haben und in die Selenskyj einwilligte.
Die Russen hätten seit Jahresbeginn 10.500 Gleitbomben gegen ukrainische Ziele eingesetzt. Allein in der Woche vom 17. bis 23. März gingen nach NATO-Angaben 1580 Gleitbomben nieder, außerdem wurden 15 ballistische Raketen eingesetzt. Deren Zahl war zuletzt niedrig, was der NATO-Beamte darauf zurückführt, dass Moskau gerade einen Vorrat bildet, um dann bei nächster Gelegenheit wieder einen massiven Angriff zu starten und die ukrainische Luftabwehr zu übersättigen.
Aus Sicht beider Fachleute deutet nichts darauf hin, dass Wladimir Putin bereit ist, die Kämpfe dauerhaft einzustellen und in Verhandlungen von seinen weitreichenden Kriegszielen abzurücken. Auf dem Schlachtfeld gebe es dafür keinerlei Anzeichen, sagt der NATO-Beamte. „Russland denkt weiterhin, dass es die Zeit auf seiner Seite hat.“ Dazu passe es, dass in diesem Jahr 160.000 Wehrpflichtige einberufen würden, 10.000 mehr als im Vorjahr. Putin sei an Gesprächen interessiert, nicht aber an echten Verhandlungen.
Der westliche Vertreter sieht es ebenso und nennt drei Gründe für seine Einschätzung. So glaube Putin nach wie vor, dass er auf dem Weg zu einem militärischen Sieg in der Ukraine sei. Außerdem habe er jeden Grund zu der Annahme, dass sich seine Verhandlungsposition mit jedem Geländegewinn verbessere, und sei er noch so gering. Und schließlich sei trotz der hohen Verluste noch keine Lage eingetreten, in der Putin innenpolitisch so sehr unter Druck käme, dass er seine Strategie überdenken müsse.
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