Pilzesammeln im Frühling? Viele Stadtmenschen dürften diese Aktivität eher mit dem Herbst assoziieren, schließlich erscheinen dann auch immer die Zeitungsartikel mit Sammeltipps und der obligatorischen Warnung, nur in den Korb zu legen, was man wirklich kennt. Dieser Rat ist allerdings auch im beginnenden Frühjahr am Platze.
Wobei es Pilze sogar im Winter gibt. Mit dem Austernseitling existiert sogar ein guter Speisepilz, der in seiner Wildform erst bei kaltem Wetter fruchtet. Nach solchen meist auf Holz gedeihenden Winterpilzen erscheinen aber auch auf den Waldböden die ersten Arten bereits im Vorfrühling.
Surrealistische Schwammerl
Unter den ersten ist der März-Schneckling Hygrophorus marzuolus, dessen Saison jetzt bereits zu Ende geht. Im Gegensatz zu den meisten seiner Gattungsgenossen fehlt seiner Hutoberfläche die namensgebende Schleimigkeit, und er gilt als hervorragender Speisepilz. Sammeln sollte man den März-Schneckling trotzdem nicht, denn er ist stark gefährdet.
Wer Pilzen aus kulinarischen Gründen nachstellt, kann sich in diesen Tagen trotzdem freuen, und zwar auf die ersten Morcheln, insbesondere auf Morchella conica, die Spitzmorchel, und Morchella esculenta, die Speisemorchel. Beide sind auch etwas fürs Auge und für die visuelle Phantasie. Ihre wabenförmigen Hutkonstruktionen haben schon so manches surrealistische Gemälde oder Science-Fiction-Buchcover inspiriert.

Doch mit den Morcheln kommen auch die Lorcheln, genauer die Frühjahrs-Giftlorcheln der Art Gyromitra esculenta aus der Familie der Discinaceae, deren genaue genetische Verwandschaftsverhältnisse erst kürzlich Gegenstand einer umfassenden Untersuchung waren. Die Gefahr einer Verwechslung mit den Morcheln ist zwar mäßig, denn die Hutoberfläche der Giftlorchel erinnert eher an Hirnwindungen als an Waben, das Risiko ist trotzdem beträchtlich, denn der Pilz enthält erhebliche Mengen einer Verbindung namens Gyromitrin, die bei Erwärmen oder im sauren Milieu des Magens Monomethylhydrazin bildet.
Diese Chemikalie wird in der Raumfahrt als Treibstoff eingesetzt und ist der Grund, warum dort das Personal beim Tankvorgang Gasmasken und Ganzkörperschutzanzüge trägt. Wiederholtes Kochen in immer neuem Wasser beseitigt das Toxin zwar weitgehend, doch wenn der Pilzkoch dabei die Dämpfe einatmet, kann er sich vergiften, bevor er überhaupt gekostet hat.

Gyromitrin tritt interessanterweise nur in manchen Discinaceae auf, die dann oft nicht näher miteinander verwandt sind. Mykologen um Alden Dirks von der University of Michigan, die das unlängst untersucht haben, vermuten daher, die Fähigkeit, das Gift zu bilden, wurde oft nicht von Ahn auf Nachkomme übertragen. Stattdessen fanden offenbar laterale Gentransferd statt, wie man sie sonst von Bakterien kennt.
So oder so ist mit Gyromitrin nicht zu spaßen. Neben akuten Vergiftungen samt Leberschäden löst es Krebs aus. Und nachdem in einem französischen Alpendorf zwischen 1990 und 2018 vierzehn Fälle von Amyotropher Lateralsklerose (ALS) auftraten, fanden Forscher 2021 einen Zusammenhang mit Giftlorcheln: Alle der dort von dieser seltenen neurodegenerativen Erkrankung Betroffenen hatten sie verzehrt, auch wenn nur bei der Hälfte von ihnen akute Vergiftungserscheinungen aufgetreten waren.
Da fragt sich, warum auch dieser Pilz den Artnamen „esculenta“ trägt, also „die essbare“. Tatsächlich ist die Frühjahrs-Giftlorchel so etwas wie der Kugelfisch der Pilzkulinarik: Nach fachgerechtem Abkochen – was Hobbyköche aber nicht immer hinbekommen – ist G. esculenta eine Delikatesse und wird in Skandinavien bis heute gerne verzehrt. In Finnland etwa wird „Korvasieni“ für knapp 30 Euro das Kilo angeboten – offen an Ständen auf Wochenmärkten. Von dem Betasten der Ware wird indes gewarnt.