Zu teuer, zu unsicher, nicht wettbewerbsfähig – die hohen Energiepreise zählen seit Langem schon zu den größten Wettbewerbsnachteilen in Deutschland. Die Energiewende macht den Unternehmen zu schaffen, und seit das billige russische Gas fehlt, grassiert gar das Gespenst einer Deindustrialisierung. Die neue Regierung will das ändern, und sie spart im Koalitionsvertrag nicht mit vollmundigen Versprechen. Alle Bereiche der Energie müssten auf Bezahlbarkeit, Kosteneffizienz und Versorgungssicherheit ausgerichtet werden, heißt es dort. „Unser Ziel sind dauerhaft niedrige und planbare, international wettbewerbsfähige Energiekosten.“
Die Stahlindustrie ist für die Neukoalitionäre nach eigenem Bekunden von zentraler strategischer Bedeutung für den Wirtschaftsstandort Deutschland. „Wir werden sie erhalten und zukunftsfähig machen und sie bei ihrer Umstellung der Produktionsprozesse auf dem Weg zur Klimaneutralität unterstützen.“ Deutschland solle zudem zum „weltweit innovativsten“ Chemiestandort werden.
Über die Finanzierung steht im Text nichts
Der energieintensiven Industrie verspricht die neue Regierung deshalb Hilfen über die angekündigten Entlastungen für alle Unternehmen hinaus. So sollen für Unternehmen und Verbraucher die Stromkosten dauerhaft um mindestens fünf Cent je Kilowattstunde sinken. Dafür würde im ersten Schritt die Stromsteuer für alle auf das europäische Mindestmaß gesenkt, Umlagen und Netzentgelte würden reduziert. Zudem packt sie die vom noch amtierenden Kanzler Olaf Scholz (SPD) abgelehnte Idee eines Industriestrompreises wieder aus; allerdings mit einschränkenden Hinweisen: So soll er nur für die „anderweitig nicht zu entlastenden energieintensiven Industrien“ gelten und „im Rahmen der beihilferechtlichen Möglichkeiten“ – also nur so viel die EU erlaubt. Über Höhe und Finanzierung steht im Text nichts.
Der Energiekonzern ENBW hat kürzlich darauf hingewiesen, dass der Investitionsbedarf in den Ausbau der Energienetze nirgendwo in Europa größer sei als in Deutschland. Die Netzentgelte aber – die den Strompreis maßgeblich treiben – lägen nur am unteren Ende in Europa. Es sei aber notwendig, internationalen Investoren eine attraktive Rendite in Aussicht zu stellen, um sie anzulocken. Obwohl die künftige Bundesregierung die Übertragungsnetze vom Norden nach Süden wenn möglich überirdisch bauen will, um teure Erdverlegungen zu vermeiden, sind die Ausbaukosten enorm. Nach einer Studie des Institutes für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) werden bis 2045 rund 651 Milliarden Euro gebraucht. Wie das finanziert werden kann und zugleich die Netzentgelte unter Kontrolle gehalten werden können, lassen die Koalitionäre offen. Einen Ausweg deuten sie nur an: „Wir prüfen strategische staatliche Beteiligungen im Energiesektor, auch bei Netzbetreibern.“ Den Ausbau würden also in diesem Fall nicht die Nutzer bezahlen, sondern indirekt die Steuerzahler.
Tatsächlich hat die chemische Industrie wegen der hohen Energiekosten schon Anlagen dauerhaft geschlossen. Nach Einschätzung der BASF sind nur knapp 80 Prozent der Anlagen am Standort Ludwigshafen unter den gegebenen Umständen dauerhaft wettbewerbsfähig. Jede fünfte Anlage unterliege aktuell einem Risiko. Ähnliche Sorgen treibt die Stahlindustrie um: Der Umbau in die klimaneutrale Produktion kostet Milliarden, die grünen Produkte müssen sich am Ende gegen herkömmlich erzeugte Produkte behaupten. Nach Schätzung des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft bewegt sich der Strompreis für Unternehmen in Amerika mit rund 8 Cent je Kilowattstunde aktuell etwa bei der Hälfte des deutschen Preises. Selbst alle Entlastungen eingerechnet, die die Ampel speziell für energieintensive Unternehmen auf den Weg brachte, sei der Strom in Amerika billiger.
Angesichts der Unsicherheit über die Finanzierung fallen die Reaktionen der energieintensiven Industrie auf die Regierungspläne vorsichtig optimistisch aus. Der Chemieverband VCI sprach von einem ordentlichen Start der Koalition. Nichts sei in diesen Tagen wichtiger als eine handlungsfähige Regierung. „Jetzt geht es darum, aus guten Absichten konkrete Ergebnisse zu machen.“ BASF schreibt, die angekündigten Maßnahmen spiegelten zahlreiche Anliegen der Industrie und auch der BASF wider. „Insbesondere begrüßen wir, dass die Bedeutung der Chemieindustrie in Deutschland ausdrücklich anerkannt wird.“ Entscheidend werde sein, „wie die angekündigten Vorhaben in der kommenden Legislaturperiode konkret ausgestaltet und wie zügig sie umgesetzt werden“.
„Reparaturmaßnahmen reichen nicht“
Die geplanten Entlastungen bei den Energiekosten zeigten, dass die künftigen Koalitionäre den Ernst der Lage erkannt hätten, sagt Christof Günther, Geschäftsführer von Infraleuna. Das Unternehmen betreibt in Sachsen-Anhalt den größten Chemiepark in Ostdeutschland, der ungefähr so viel Strom wie zwei Drittel der Haushalte in dem Bundesland verbraucht. „Um die internationale Wettbewerbsfähigkeit zurückzugewinnen, benötigen wir aber den eigentlich versprochenen Neustart der Energiewende, der deutlich über die zahlreichen im Koalitionsvertrag vorgesehenen Reparaturmaßnahmen am bestehenden System hinausgeht“, sagt Günther, der sich in den vergangenen Monaten für eine Rückkehr zu Gasimporten aus Russland starkgemacht hat, um eine kostengünstige Versorgung sicherzustellen. Union und SPD hätten die Bedeutung der energieintensiven Industrien für die Volkswirtschaft erkannt, heißt es auch beim Düngemittelhersteller SKW Piesteritz in Wittenberg. Nun gelte es, die guten Ansätze schnellstmöglich und vollumfänglich wirksam werden zu lassen – „bei Kostenentlastungen wie der Gasspeicherumlage am besten rückwirkend zum Jahresanfang“, sagt Geschäftsführer Carsten Franzke. Im ersten Quartal hatte das Unternehmen aus Sachsen-Anhalt wegen hoher Gaspreise zeitweise die Produktion gedrosselt.
„Der Koalitionsvertrag setzt mit der geplanten Senkung der Stromkosten um fünf Cent pro Kilowattstunde ein wichtiges Signal an die energieintensive Stahlindustrie“, sagte Kerstin Maria Rippel, Hauptgeschäftsführerin der Wirtschaftsvereinigung Stahl, in einer ersten Reaktion. Die angekündigte Reduktion der Netzentgelte bezeichnete sie als „wesentlichen ersten Schritt in die richtige Richtung“, machte aber auch klar: „Das allein wird nicht ausreichen.“ Auch die Börsenstrompreise in Deutschland seien „weiterhin deutlich zu hoch und eine Belastung für die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Stahlerzeuger“. Nötig sei „ein Industriestrompreis, auf den wir uns verlassen und mit dem wir planen können“.
Thyssenkrupp lobt die „Neuausrichtung“
Als positive Beispiele nannte sie Frankreich und Italien. Der in Frankreich noch bis Ende 2025 laufende ARENH-Mechanismus sieht vor, dass der staatliche Energiekonzern EDF fast ein Fünftel der landesweiten jährlichen Stromproduktion zum Sonderpreis von 4,2 Cent je Kilowattstunde an die Industrie verkaufen muss. Italien, das grundsätzlich ein vergleichsweise hohes Energiepreisniveau hat, hat kürzlich einen Mechanismus eingeführt, nach dem Tausende energieintensive Unternehmen von der zuständigen Behörde im Rahmen eines Differenzenvertrags Strom für drei Jahre zu einem Festpreis von 6,5 Cent pro Kilowattstunde bekommen können. Im Gegenzug müssen sie aber zusagen, in Anlagen zur Erzeugung erneuerbarer Energien zu investieren. Mit Blick auf solche Beispiele sagte Rippel, auch die neue Koalition in Deutschland sei jetzt gefragt „zu liefern“.
Auch Thyssenkrupp, dessen Duisburger Stahlsparte Deutschlands größter Stahlhersteller ist, begrüßte „die angekündigte Neuausrichtung der Energie- und Klimapolitik hin zu mehr Pragmatismus“, wie ein Sprecher sagte. Er nannte als ein Beispiel „das Bekenntnis zur Senkung der Energiepreise“. Positiv wertete der Essener Industriekonzern aber auch „das geplante Vorantreiben von CCS“, also von Technologien, die Kohlendioxid abscheiden und speichern.
Laut Koalitionsvertragstext strebt die neue Regierung an, die Stahlindustrie „bei ihrer Umstellung der Produktionsprozesse auf dem Weg zur Klimaneutralität zu unterstützen“. Dazu wollen die Koalitionsparteien „auch die Nutzung von CCS-Technologien ermöglichen“. Allerdings steckt die Technologie noch in den Kinderschuhen, zum Beispiel fehlen Pipelines zum CO2-Transport, und es bleibt offen, wo genau das abgeschiedene CO2 verpresst werden soll. „Als Elektrostahlwerk begrüßen wir es zunächst sehr, dass die künftige Bundesregierung den hohen Energiepreisen in Deutschland Beachtung schenkt“, sagt Uwe Reinecke, Manager der italienischen Feralpi Stahl im sächsischen Riesa. Grundsätzlich freue er sich über das Bekenntnis zur Stahlindustrie. Aber zugleich warnt auch er: Wie bei den Energiethemen komme es jetzt auf die konkrete Umsetzung an.