Der Koalitionsvertrag vertagt Reformen oder lagert sie aus

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Am Ende ging es schneller als gedacht. Schon am Mittwoch legten Union und SPD ihren Koalitionsvertrag vor. Auf der ungewohnt pünktlich beginnenden Pressekonferenz wurde deutlich, dass das neue Bündnis das Regieren möglichst schnell, dynamisch und im Schulterschluss angehen will. Die Regierung in spe sah sich unter Druck, nicht zuletzt durch die amerikanische Herausforderung mit neuen Zöllen, den schlingernden Finanzmärkten und einer erratischen Sicherheitspolitik.

Von einem echten Aufbruch ist in dem 144 Seiten starken Koalitionsvertrag indes wenig zu spüren. Der „Neustart“, das Lieblingswort der Union, hat es nicht in den Text geschafft. Stattdessen hat die Koalition viele Themen vertagt oder in andere Hände gelegt. Mindestens 15 neue Kommissionen will die künftige Regierung als Beratungs- und Entscheidungsgremien einsetzen, vom Wahlrecht bis zur Gleichstellungsstrategie. Rechnerisch lagern die Koalitionäre auf diese Weise alle zehn Seiten eine Reform aus, die allein anzupacken sich die neue Allianz offenbar nicht traut.

Es geht nicht nur um Randthemen wie die Gründung eines Expertenrats zum Prostituiertenschutzgesetz, sondern auch um größere Fragen: Eine Kommission zur Sozialstaatsreform soll bis Ende des Jahres Empfehlungen zur Rechtsvereinfachung und zur Zusammenlegung von Sozialleistungen abgeben. Im Wirtschaftsministerium wird es eine neue Arbeitsgruppe zum Thema Wettbewerb und Künstliche Intelligenz geben. Ein anderes Gremium wird sich um die Entbürokratisierung und die engere Kooperation von Bund und Ländern kümmern. Ein weiteres beschäftigt sich bis Ende 2025 mit der Modernisierung der Schuldenbremse, damit „dauerhaft zusätzliche Investitionen in die Stärkung unseres Landes“ fließen können.

Schieflage der Sozialversicherungen

Das Auslagern und Vertagen ist besonders heikel für die Sozialversicherungen, deren Ausgaben schneller klettern als die Einnahmen. Um die Schieflage ins Lot zu bringen, müssten entweder die Kosten sinken – dazu zählen die Leistungen – oder die Einkünfte steigen. Letztere bestehen neben den Bundeszuschüssen vor allem aus den Sozialabgaben von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Diese Beitragseinnahmen wachsen mit der Beschäftigung und der Lohnhöhe und wenn die Beitragssätze steigen.

Das tun sie seit Jahren. Der Anteil der Sozialversicherungsabgaben an den beitragspflichtigen Arbeitsentgelten hat seit 2010 von 39,6 auf 42,5 Prozent zugenommen. Das privatwirtschaftliche Berliner Forschungsinstitut IGES erwartet, dass die Last in zehn Jahren auf 46 bis 53 Prozent steigen wird. Bekannt ist das seit Langem, und die Union hatte Abhilfe versprochen. In ihrem Wahlprogramm hatte es in Erinnerung an die frühere „Sozialgarantie“ noch geheißen: „Wir wollen uns wieder auf die 40 Prozent hinbewegen.“

Im Koalitionsvertrag ist davon nichts zu lesen. Die Begriffe „Sozialbeiträge“, „Sozialabgaben“, „Lohnneben-“ oder „Arbeitskosten“ kommen nicht vor. Und das, obwohl eines der Hauptziele der Union ist, den Wirtschaftsstandort attraktiver zu machen. Dazu gehören auch beherrschbare Arbeitskosten und reizvolle Nettolöhne. Ein alleinstehender Durchschnittsverdiener trug 2023 nach Berechnung der Industrieländerorganisation OECD eine Abgabenlast von 47,9 Prozent in Form von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen. Nur in Belgien war die Belastung noch höher.

Besonders prekär: die Pflege

Was will die künftige Koalition dagegen tun? In der Gesundheits- und Pflegeversicherung wollte die Arbeitsgruppe von Union und SPD, die den Koalitionsvertrag vorbereitete, die Beiträge vor allem mit Zahlungen aus dem Staatshaushalt stabilisieren. Allein für die gesetzliche Krankenversicherung hätte das – selbst unter Berücksichtigung der wenigen Sparvorschläge – jedes Jahr 18 Milliarden Euro gekostet, zusätzlich zum bestehenden Bundeszuschuss von 14,5 Milliarden. Weil diese Ideen den Finanzpolitikern unbezahlbar erschienen, ist davon im Vertrag nicht viel übrig geblieben. Gehalten hat sich nur die Empfehlung, den Transformationsfonds für den Umbau der Krankenhauslandschaft nach dem Prinzip Verschiebebahnhof aus dem „Sondervermögen Infrastruktur“ und nicht aus Kassenbeiträgen zu befüllen.

Der Koalitionsvertrag enthält ein Bekenntnis zur Beitragsstabilität, zu steigenden Einnahmen durch höhere Beschäftigung – und er enthält die in der Gesundheitspolitik seltene Ankündigung, Ausgaben zu senken. Wie all das aber zu erfolgen hat, bleibt offen. Es heißt: „Für diese Aufgabe werden wir eine Kommission unter Beteiligung von . . . Experten und Sozialpartnern einrichten.“ Diese soll ihre Ratschläge bis zum Frühjahr 2027 unterbreiten. Die grundlegende Finanzreform der gesetzlichen Krankenversicherung frühestens in zwei Jahren anzugehen bedeutet, dass die Versicherungsbeiträge, entgegen den Versprechungen im Vertrag, weiter steigen werden.

In der Pflege ist die Lage noch prekärer. Trotz stattlicher Beitragserhöhungen kommen die Versicherungen mit dem Geld nicht aus. Eine erste Kasse musste schon vor dem Kollaps gerettet werden. Der scheidende Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hatte mehrfach einen Systemumbau versprochen, gekommen ist er nicht. Jetzt hat Schwarz-Rot sich die „große Pflegereform“ vorgenommen – und will erst einmal eine Arbeitsgruppe von Bund und Ländern einsetzen. Sie soll ihre Ergebnisse bis zum Jahresende vorlegen. Der Prüfauftrag umfasst die SPD-Forderung, die pflegebedingten Eigenanteile für Heimbewohner zu begrenzen. Hingegen fehlt jeder Hinweis auf die von Friedrich Merz (CDU) angeregte „verpflichtende private zusätzliche Pflegeversicherung“.

Jetzt doch mit der Gießkanne

Zu einer Politik der Ausgabenbegrenzung, die Beitrags- und Steuerzahlern Entlastung bringen könnte, haben Union und SPD sich auch auf anderen Feldern nicht durchgerungen. Zum Bürgergeld sind einige Änderungen verabredet, die stärker zum Arbeiten anhalten sollen. Aber selbst Einsparungen von sechs Milliarden Euro im Jahr, wie die CDU sie vor der Wahl in Aussicht gestellt hatte, reichten nicht aus, um die Mehrkosten der von den Neukoalitionären jetzt neu vereinbarten Rentenerhöhungen aufzufangen. Diese verursachen Mehrkosten von rund sechs Milliarden Euro im ersten Jahr, die bis 2031 schrittweise auf rund 15 Milliarden Euro anwachsen werden.

In scharfem Kontrast zur Idee eines Politikwechsels steht die von der CSU – auch gegen die CDU – durchgesetzte Erweiterung der Mütterrente für Frauen mit Kindern, die vor 1992 geboren wurden. Diese Erweiterung allein steigert die jährlichen Rentenausgaben schon um fast fünf Milliarden Euro. CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann hatte nach seinem Amtsantritt 2023 anderes versprochen: Es gebe „zu viel Sozialpolitik mit der Gießkanne“, sagte er damals der F.A.Z. „Eine weitere Erhöhung der Mütterrente kann es daher nicht geben.“

Nun wird die Erweiterung der Mütterrente, die dritte seit 2014, etwa drei Vierteln aller Rentnerinnen zugutekommen. Sie alle erhalten weitere 20 Euro mehr Monatsrente je Kind. Bei Weitem nicht alle dieser Rentnerinnen sind Frauen mit sehr kleinen Renten, die um jeden Euro knapsen und die CSU-Chef Markus Söder begünstigen will. Alle drei Mütterrentenpakete seit 2014 zusammen ergeben 80 Euro je Mutter mehr oder Mehrausgaben von etwa 20 Milliarden Euro im Jahr.

Kinderkriegen mehrfach belohnt

Das Kinderkriegen wird in der Rentenversicherung auch an anderen Stellen honoriert, etwa in der Witwenrente. Vorschläge, wenigstens diese zu reformieren, um Doppelungen der Rentenzahlungen für das Kinderaufziehen zu vermeiden, greifen die Neukoalitionäre nicht auf. Die Abwägung der Mehrkosten mit den finanziellen Belastungen künftiger Generationen fällt unter den Tisch.

Auf jeden Fall wollen die Koalitionäre zusätzlich die jährlichen Rentenerhöhungen für alle 21 Millionen Rentner verstärken. Der Demographiefaktor, der eigentlich dem Lastenausgleich zwischen den Generationen dienen soll, wird für weitere sechs Jahre ausgeschaltet. Er war zur Jahrtausendwende eingeführt worden, um die Rente in den Jahren finanziell zu stabilisieren, wenn die geburtenstarken Jahrgänge von Zahlern zu Rentnern werden. Diese Phase beginnt nun. Mit dem Faktor steigen die Renten etwas langsamer als die Löhne, wenn weniger Arbeitnehmer für mehr Rentner zahlen müssen. Das wird nun bis 2031 gesetzlich ausgeschlossen. Politisch wird das verbrämt mit der Formel des „Rentenniveaus von 48 Prozent“.

Nur in einem Punkt blieben die Warnungen von Ökonomen vor untragbaren Sozialabgaben nicht völlig wirkungslos: Die neuen Rentenversprechen von bis zu 15 Milliarden Euro je Jahr sollen nicht über höhere Rentenbeiträge aufgebracht werden, sondern durch mehr Steuermittel. So steht es im Vertragstext. Die ohnehin steigenden Zahlungen aus dem Bundesetat für die Renten, zuletzt gut 120 Milliarden Euro, dürften bald auf 150 Milliarden Euro im Jahr steigen.

Wo kürzen für die Rente?

Um dieses Geld aufzubringen, könnte die Regierung sich gezwungen sehen, Ausgaben für Infrastruktur, Bildung und Forschung zu kürzen – oder die Kosten doch zu den Beitragszahlern zu verlagern. Die Koalitionäre halten dem eine vereinbarte Sicherheitsklausel entgegen: Kurz vor der Bundestagswahl 2029 wollen sie „evaluieren“, ob die Rentenpolitik funktioniert oder ob „Maßnahmen“ zu ergreifen sind. Kurz vor dem Wahltag aber Einsparungen in der Rente zu beschließen wäre beinahe revolutionär.

Der Opposition ist nicht entgangen, dass die künftige Regierung wichtige Reformen auf die lange Bank schiebt. Die Grünen zählen im Koalitionsvertrag 18 Kommissionen und Fachgruppen. Es gelte offenbar das Motto „Wenn ich nicht mehr weiterweiß, gründe ich einen Arbeitskreis“, spottete die Fraktionsvorsitzende Britta Haßelmann: „Dafür ist die Lage aber zu ernst.“ Merz wies den Vorwurf zurück. „Wir warten nicht ein paar Jahre, sofort nach dem Regierungsantritt werden diese Kommissionen berufen“, sagte der Kanzler in spe in Berlin. Man schreibe die Rentenformel nur bis 2031 fort: „In der Zeit müssen wir eine grundlegende Reform machen, das Gleiche gilt für Gesundheit und Pflege.“ Vorerst aber sind die gebotenen Reformen vertagt, und es ist unklar, was kommen wird.

In der Finanzpolitik schieben Union und SPD die größten Projekte in die Zukunft. „Wir werden die Einkommensteuer für kleine und mittlere Einkommen zur Mitte der Legislatur senken“, versprechen sie. Doch weder wird dafür ein Jahr genannt noch eine Einkommensgrenze, bis zur der diese Entlastungszusage gelten soll. Es darf noch eine Weile gerätselt werden, wer von der Reform profitieren wird.

Aufbruch teils nur mit Verzögerung

Auch Kapitalgesellschaften müssen sich gedulden, bis die versprochene Senkung der Körperschaftsteuer beginnt (in fünf Schritten von 15 auf 10 Prozent), aber wenigstens wird ein Termin genannt: Anfang 2028. Vorher gibt es einen „Investitions-Booster“ in Form einer degressiven Abschreibung auf Ausrüstungsinvestitionen von 30 Prozent. Investoren, insbesondere aus dem Ausland, lassen sich aber eher durch dauerhafte Senkungen der Steuersätze gewinnen als durch zeitweise Abschreibungserleichterungen, mahnen Ökonomen. Auch so verschiebt die Regierung in spe Signale des wirtschaftlichen Aufbruchs in die Zukunft.

Der „Investitions-Booster“ dürfte Teil des Sofortprogramms werden, das Linnemann am Freitag bis zum Sommer angekündigt hat. Auf diese Weise will er einige Beschlüsse aus dem Koalitionsprogramm zügig verwirklichen.

Auch die Steuerfreiheit für Überstundenzuschläge soll „umgehend“ kommen. Die höhere Pendlerpauschale und die gesenkte Mehrwertsteuer in der Gastronomie könnten Anfang 2026 in Kraft treten, als Teil des Sofortprogramms oder geregelt in einem eigenen Steuergesetz. Wann Senioren, die über das gesetzliche Rentenalter hinaus arbeiten wollen, steuerfrei 2000 Euro im Monat verdienen können, lassen die neuen Partner hingegen offen. Auch das verhindert in einem demographisch schrumpfenden Land Wachstum.

Ein Stopp, ein Shop

Im Kapitel zur allgemeinen Wirtschaftspolitik bleiben zentrale Fragen offen, etwa: Wie kann ein Industrieland, das über keine ganzjährig zuverlässige klimafreundliche Energiequelle verfügt, CO2-neutral werden und Industrieland bleiben? Die schwarz-rote Koalition setzt ähnlich wie die Ampelregierung auf ein Bündel aus Subventionen und den Faktor Hoffnung. Fürs Erste will man die hohen Strompreise in Deutschland durch diverse staatliche Zuschüsse senken. Neue Gaskraftwerke sollen entstehen, um in wind- und sonnenarmen Zeiten einzuspringen. Doch bis die stehen und es ausreichend Wasserstoff zu wettbewerbsfähigen Preisen gibt, wird viel Zeit vergehen – vermutlich mehr als die 15 Jahre, in denen der Staat Industrieunternehmen im Rahmen der Klimaschutzverträge die Mehrkosten einer klimafreundlichen Produktion erstatten will.

Vorerst nur eine Absichtserklärung ist, den Rückstand Deutschlands gegenüber Ländern wie den USA und China in Zukunftsbranchen wie Künstlicher Intelligenz, Quantencomputing und Biotech aufzuholen. Der deutsche Hang, neue Techniken detailliert zu regulieren, noch bevor es überhaupt Geschäftsmodelle dazu gibt, lässt sich aber nicht mal eben abstreifen. Zumindest haben die Koalitionäre erkannt, dass die öffentliche Verwaltung mit gutem Beispiel vorangehen sollte. Kürzere Genehmigungsverfahren für neue Fabriken, Exportkontrollen nur noch stichprobenartig: Darauf warten Unternehmen schon lange. Ein Paradigmenwechsel wäre auch der im Koalitionsvertrag angekündigte „One-Stop-Shop“ für Unternehmensgründungen binnen 24 Stunden. Die zentrale Anlaufstelle für Gründer hatte aber 2018 auch schon die damalige schwarz-rote Regierung im Koalitionsvertrag versprochen. Sie kam dann aber doch nicht.