Ein Nachschlagwerk für den menschlichen Körper

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Stand: 13.04.2025 07:10 Uhr

Es ist ein gigantisches Projekt, möglich durch internationale Zusammenarbeit. Ein menschlicher Zellatlas soll entstehen – ein Nachschlagewerk für den menschlichen Körper. In der Pandemie war das bereits nützlich.

Woraus besteht der menschliche Körper? Welche Zelltypen gibt es – und wie sind diese genau aufgebaut? Wie verändern sich kranke Zellen? Es sind große Fragen, die das internationale Forschungskonsortium des “Human Cell Atlas” beantworten will. Forschende aus der ganzen Welt tragen dafür ihre Daten zusammen.

“Dabei geht es natürlich auch um Grundlagenforschung“, sagt Sarah Teichmann. Sie ist Professorin in der Clinical School der Cambridge University. Gemeinsam mit der israelisch-amerikanischen Bioinformatikerin Aviv Regev startete sie 2016 das riesige Projekt. “Wir wollen etwas über uns lernen und unseren Körper besser verstehen”, so Teichmann. “Aber gleichzeitig gibt es etliche Anwendungen auf alle möglichen biomedizinischen Fragestellungen.”

Wertvolle Informationen in der Pandemie

Ein Beispiel: Währen der Pandemie 2020 wurden die gesammelten Informationen des “Human Cell Atlas” schon ganz praktisch genutzt. Als sich das Coronavirus ausbreitete, konnten mit den Zelldaten schnell gezeigt werden, wo das Virus in den Körper eintreten kann. “Die Informationen, dass das Virus zum Beispiel über die Mundschleimhäute oder die Augen in den Körper kommt, wurde von den Komitees und Gremien, die für die Schutzmaßnahmen zuständig waren, bereits im Frühjahr 2020 aufgenommen”, erklärt Sarah Teichmann. “Und das war dann sofort wichtig für den Einsatz von zum Beispiel Masken oder Schutzbrillen.”

Auch bei vielen weiteren medizinischen Fragestellungen sollen die gesammelten Daten über die menschlichen Zellen als Referenz genutzt werden können: “Wenn sich ein Gewebe verändert, zum Beispiel durch Krebs oder neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer, dann können wir den Zellatlas als Vergleich heranziehen und sehen, wo die relevanten Unterschiede liegen zwischen einer gesunden und einer kranken Zelle”, so Teichmann. Solche Informationen könnten zum Beispiel genutzt werden, um passende Medikamente zu finden.

Forschende von allen Kontinenten arbeiten zusammen

Der Startschuss für das Projekt fiel 2016 bei einer kleinen Konferenz mit etwa 100 Forschenden. Mittlerweile besteht das Forschungskonsortium aus fast 4.000 Menschen aus über 100 Ländern – Forschende von allen Kontinenten sind beteiligt. Anders wäre ein solches Projekt auch nicht möglich, erklärt Sarah Teichmann: “Die Aufgabe wäre viel zu groß für einzelne Labore oder Institute.” So teilt jeder die Erkenntnisse aus seinem Fachbereich.

Mit dabei ist auch Lucas Schirmer von der Universitätsmedizin Mannheim. Er ist Professor für Translationale Neurobiologie an der Universität Heidelberg und untersucht mit seinem Team, wie unterschiedlich einzelne Zelltypen in den Regionen des Gehirns und der Muskulatur sind. “Die Daten, die wir erhoben haben, wurden konsequent in den ‘Human Cell Atlas’ überführt“, so der Neurologe. Er erforscht zum Beispiel den Unterschied zwischen entzündeten und gesunden Nerven- und Muskelzellen. “Der ‘Human Cell Atlas’ des Gehirns, an dem wir mitgearbeitet haben, dient dabei als Vergleichswert für gesunde Zellen.”

Modernste Technologien erlauben genaue Analysen

Dass ein solcher Atlas überhaupt durchführbar ist, liegt an neuen Technologien: In den letzten 15 Jahren wurde es möglich, einzelne Zellen genetisch zu analysieren. Und man kann nicht nur herausfinden, welche Gene aktiv sind – sondern auch wo in einem dreidimensionalen Gewebe.

Die gesammelten Datenmengen der Zellen sind wertvoll – aber auch eine Herausforderung, sagt der Bioinformatiker Oliver Stegle. Er ist kommissarischer Leiter des AI Centers am European Molecular Biology Lab und Abteilungsleiter am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg und arbeitet am “Human Cell Atlas” mit. “Wir entwickeln Strategien, um die Daten der Wissenschafts-Community der ganzen Welt zusammenzubringen.” An sich seien die Daten zwar vergleichbar: Alle Gruppen sequenziellen menschliche Zellen. “Im Detail unterscheiden sich die Daten dann aber sehr stark.“

Technologie verändert sich ständig

Außerdem habe sich die Technologie immer wieder komplett geändert. “Wir generieren heute ganz andere Daten wie vor einem Jahr.” Oliver Stegle erforscht mit seiner Arbeitsgruppe unter anderem die Frage, wie man die Unterschiede von Zelltypen definieren kann – wann gehören zwei Zellen zur gleichen Gruppe, wann gibt es biologische relevante Unterschiede?

Von Anfang an diskutierte er mit, wie ein solcher menschlicher Zellatlas sinnvollerweise aufgebaut sein muss. Denn die Daten, die in einem solchen Zellatlas gesammelt werden können, seien per Definition lückenhaft. “Wir können gar nicht jede Zelle bis in den letzten Winkel auflösen. Wir müssen dauernd Entscheidungen treffen: Wollen wir zum Beispiel lieber Daten von 1.000 Zellen von einem Zelltyp mit einem sehr hohem Detailgrad oder zehn Millionen Zellen mit einem geringerem Detailgrad messen?” Man müsse immer wieder überlegen, wie man die Versuche aufbauen kann, um aus den Daten einen echten Gewinn zu ziehen.

Riesige Datenmengen für Analysen mit KI

Hinzu kommt: Die Art der Datenverarbeitung, zum Beispiel mit Künstlicher Intelligenz, ändert sich aktuell rasant. Jetzt, da der Atlas immer mehr Gestalt annimmt, wird es für die Datenanalysten also noch einmal richtig interessant. Lucas Schirmer von der Universitätsmedizin Mannheim nutzt den “Human Cell Atlas” schon heute – für seine Forschung an gesunden und kranken Nerven- und Muskelzellen. Er kann online auf die bereits gesammelten Daten zugreifen: “Das ist der große Vorteil von so einer riesigen, aggregierten Sammlung: Man kann nicht nur mit seinen eigenen Daten arbeiten, sondern kann Datensätze von verschiedenen Gruppen, die dort ihre Daten eingespeist haben, integrieren.” Das ermögliche bessere statistische Auswertungen – und bessere Analysen mithilfe von künstlicher Intelligenz.

Der Neurologe aus Mannheim hofft, dass man in Zukunft mit Hilfe der Zellatlanten zum Beispiel neue Biomarker finden könnte, die auf bestimmte Erkrankungen und deren Verläufe hinweisen. So könnten bessere und vor allem spezifischere Therapien entwickelt werden. Für den Bioinformatiker Stegle aus Heidelberg ist die Vision, alle menschlichen Zellen zu sequenzieren, immer noch faszinierend: “Für jemanden, der wie ich datengetrieben arbeitet, der sich für große Datensätze interessiert, ist das natürlich ein Traum von einer Möglichkeit.” 18 Teilatlanten des menschlichen Körpers wird es geben – sortiert nach Organen. Vier wurden bereits veröffentlicht, der Rest soll dieses Jahr noch folgen.