Lebensgefühl auf dem Land: Das einsamste Dorf Deutschlands

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Am liebsten würden die Voigtsdorfer einen Zaun um ihren Ort bauen. „War alles schon geplant, durften wir nicht“, sagt einer der Männer vor dem Gemeindehaus und grinst. Wäre es nicht verboten, so viele Bäume abzuholzen, stünde der Zaun längst. Ein Holzzaun bietet natürlich keinen hundertprozentigen Schutz. „Den könnte man von außen abbrennen“, sagt einer im Scherz. Besser noch, sie würden die alten Mauerreste aus Berlin herholen.

In Voigtsdorf ist die Welt nämlich noch in Ordnung, deshalb mögen sie es hier. „Wenn nur die anderen nicht immer stören würden“, sagt Jochen Schönfelder. Täglich trifft er in der Schulungsstätte der Freiwilligen Feuerwehr einige Nachbarn und Bekannte aus dem Ort.

Gemeinsam blicken sie mit Misstrauen hinter die Grenzen ihrer kleinen Gemeinde. In Berlin wolle er nicht mal tot über dem Zaun hängen, sagt einer, der zu DDR-Zeiten als Kraftfahrer arbeitete. Drinnen reihen sich Pokale diverser Mannschaftsdisziplinen im Regal, an den Wänden verblassen Fotos von längst weggezogenen Feuerwehrgenerationen. Draußen scheint die Sonne, deshalb sitzen die Versammelten heute vor dem Gebäude mit Blick auf den Dorfteich.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.


In Mecklenburg-Vorpommern gibt es viele kleine Gemeinden. Voigtsdorf ist die kleinste. Der Landkreis ist so dünn besiedelt, dass die Vereinten Nationen ihn als „größtenteils unbewohnt“ einstufen. 92 Menschen leben hier: einige Rentner, ein paar Familien mit Kindern. Entlang der Dorfstraße reihen sich Wohnhäuser, ein einsamer Plattenbau und eine baufällige Kirche, die einst ein Schinkelschüler entwarf. Ein Gallierdorf, sagt einer der Anwesenden an diesem Nachmittag und meint damit nicht nur die Größe des Ortes.

Misstrauen gegen die Nachbarn – und die in Berlin

Selbst die Nachbargemeinden stehen im Verdacht, die Voigtsdorfer schikanieren zu wollen. Das wenige Kilometer entfernte Groß Miltzow zum Beispiel plant eine neue Windparkanlage. „Weil die mal gehört haben, dass die Grünen unbedingt noch welche brauchen“, sagt Schönfelder. Das letzte Windrad soll ausgerechnet an der Grundstücksgrenze zu Voigtsdorf stehen. „Ein 230 Meter hohes Teil“, sagt Schönfelder. Das müsse doch nicht sein. Seine Frau habe schon Einspruch eingelegt, wegen der Flugrichtung der Zugvögel. Und dann ist da noch „der Holländer“, der mehrere Geflügelzuchtbetriebe hochzog. In den Niederlanden dürfe er das nicht, deshalb komme er nach Deutschland, sagt Schönfelder und lacht bissig. Dagegen hatte sich Protest geregt – heute stehen die industriellen Anlagen unweit der Ortsgrenze.

In der Schulungsstätte der Freiwilligen Feuerwehr hängen Bilder von längst weggezogenen Generationen.
In der Schulungsstätte der Freiwilligen Feuerwehr hängen Bilder von längst weggezogenen Generationen.Lucia Baumann

Wenn der Wind ungünstig steht, hören die Voigtsdorfer das Rauschen der Autobahn. Die A 20 verläuft nur wenige Hundert Meter entfernt. Daran gewöhne man sich, sagt Schönfelder, im Alter werden die Ohren ohnehin schlechter. Eine Schallmauer habe die Bundesregierung den Voigtsdorfern verweigert, sagt Isolde Deutschmann, die hier 20 Jahre lang Bürgermeisterin war. Als man einmal Hilfe brauchte, kam also nichts.

Eigentlich wollten die Voigtsdorfer die ganze Autobahn verhindern. Wer gern unter sich bleibt, braucht schließlich keine Schnellstraße vor der Haustür. Erst recht nicht eine in die Hauptstadt. Aber das Bundeskabinett setzte sich darüber hinweg: Die A 20 wurde nach der Wiedervereinigung als eines der „Verkehrsprojekte Deutsche Einheit“ beschlossen. Inzwischen sind die meisten im Ort froh über den Anschluss. Trotzdem hatten mal wieder andere entschieden, nicht sie selbst.

Nicht nur Voigtsdorf ist hoch verschuldet

Da liegt es nur nahe, weiter unabhängig zu bleiben und zumindest auf den eigenen 7,6 Quadratkilometern die Entscheidungshoheit zu behalten. Gemeinden, die bereit waren zu fusionieren, erhielten in Mecklenburg-Vorpommern zeitweilig eine „Hochzeitsprämie“. Die Einwohner weigerten sich. Und als es schließlich so aussah, als wäre ein Zusammenschluss notwendig, weil niemand als neue Bürgermeisterin kandidierte, wollte die Voigtsdorfer keiner der benachbarten Orte haben.

Im letzten Jahr fand sich dann schließlich doch wieder eine Gemeindevertreterin. Die Fusion war damit verhindert. „Und nun sind wir halt immer noch allein“, sagt Schönfelder. „Aber ist doch schön.“ Ein anderer sagt: „Aus zwei Miesen wird außerdem kein Plus.“ Das sehen hier viele so. Schließlich kämpft nicht nur Voigtsdorf mit hohen Schulden, sondern auch die umliegenden Ortschaften. Eine einmalige Prämie zur Vermählung hätte der schiefen Haushaltslage langfristig wenig geholfen.

So schön wie möglich: Die Voigtsdorfer pflegen ihre Grünanlagen selbst.
So schön wie möglich: Die Voigtsdorfer pflegen ihre Grünanlagen selbst.Lucia Baumann

Die Voigtsdorfer leben da, wo andere Urlaub machen: im Landkreis Mecklenburgische Seenplatte. In unmittelbarer Nähe beginnen die sanften Hügel der Weinberge, im Nordosten liegen die Brohmer Berge. Oder, wie Schönfelder sagt: „der größte zusammenhängende Gebirgszug in Mecklenburg-Vorpommern mit einer maximalen Höhe von 158 Metern.“ Wo immer er eine parat hat, untermauert er seine Aussagen gern mit einer Zahl. Schönfelder kenne niemanden, der weggezogen sei, weil es ihm dort irgendwann nicht mehr gefallen habe. „Hier randaliert auch keiner rum“, ergänzt die ehemalige Bürgermeisterin Deutschmann bei einem Spaziergang entlang Voigtsdorfs einziger Straße. Nicht wie in den großen Städten, wo Jugendliche Flaschen schmissen.

Die Voigtsdorfer lieben den Zusammenhalt, das friedliche Miteinander. Irgendwer hat immer das gerade benötigte Werkzeug zu Verleihen. Öffentliche Gelder sind knapp, die Einwohnerzahl schrumpft. Aber die, die bleiben, geben sich alle Mühe, den Mangel zu kompensieren. Die Grünflächen rund um den Dorfteich sind makellos gepflegt, der örtliche Verein veranstaltet regelmäßig Feste. Gefeiert wird in Voigtsdorf gern, dafür ist das Dorf in der Region bekannt. Und darauf sind sie stolz, auch wenn inzwischen fast nur noch die älteren Generationen bei den Festen aufkreuzen.

In Eigenregie erhalten Dorfbewohner das kulturelle Leben

Sie organisieren alles selbst, trotz der finanziellen Widrigkeiten. „Einmal Voigtsdorf, immer Voigtsdorf“ – das sagt Schönfelder an diesem Nachmittag mehrmals. Er ist der Vorstandsvorsitzende des örtlichen Vereins „Rettungstrupp“. Der wird wegen seines Namens häufig mit der Feuerwehr verwechselt. Mit dem Notruf hat er aber nichts zu tun, sondern damit, einen wichtigen Treffpunkt im Ort vor der Schließung zu bewahren: das Kulturhaus.

Aus Sicht des Amtes Woldegk, zu dem das Dorf gehört, war ein zweiter kommunaler Veranstaltungsort neben dem Gemeindehaus zu teuer. Das wollten die Voigtsdorfer sich nicht bieten lassen, also gründeten sie den „Rettungstrupp“. Seitdem finanzieren Mitgliedsbeiträge und Einnahmen das Kulturhaus. Der Eintritt für die Veranstaltungen ist erschwinglich, nur 45 Euro kostet die Karte für Silvester, alles inklusive. Zu DDR-Zeiten gab es solche Klubhäuser fast überall, auch auf dem Land. Viele mussten nach der Wende schließen.

Der Verein Rettungstrupp konnte das Kulturhaus mit Spenden und Mitgliedsbeiträgen vor der Schließung bewahren.
Der Verein Rettungstrupp konnte das Kulturhaus mit Spenden und Mitgliedsbeiträgen vor der Schließung bewahren.Lucia Baumann

Das schlichte Gebäude steht abschüssig am Ortsausgang, Schönfelder hat den Schlüssel. Als er die Tür öffnet, bleibt sein Blick am Boden hängen. „Da hängt Herzblut dran, an dem Parkett“, sagt er und deutet auf die Holzplanken. Sie stammen aus einer Schule im Nachbarort, wurden restauriert und neu verlegt. Die Voigtsdorfer machen vieles selbst – weil es sonst gar keiner machen würde.

Schönfelder holt sein Handy raus und zeigt Videos von der letzten Frauentagsfeier. Einige tanzen auf dem geschichtsträchtigen Parkett im Kulturhaus, die Stimmung ist gut. Dass die Voigtsdorfer ihren Festsaal in Eigenregie halten können, obwohl er wegrationalisiert werden sollte, damit brüsten sich die Menschen hier. Aktuell planen sie eine Rampe für den Eingang, damit auch Rollstuhlfahrer problemlos reinkommen. Die Mitglieder des Rettungstrupps kümmern sich inzwischen auch um Aufgaben, die anderenorts von der Kommune getragen werden: Freiwillige pflegen Beete und Wege, im Dezember kümmert sich der Verein um weihnachtliche Beleuchtung. Auf die Gemeinschaft ist eben Verlass, selbst wenn die Landesregierung wieder irgendwo kürzen will.

Die wichtigen Entscheidungen werden anderswo getroffen

Von den Medien halten die Voigtsdorfer wenig. Öffentlich-rechtliche berichteten manchmal über den Ort, wahlweise stellvertretend für verarmte oder überalterte Kommunen auf dem Land, mit Beitragstiteln wie „Voigtsdorf, das entschlafende Dorf“. Vom Besuch der F.A.S. ist die Bürgermeisterin deshalb wenig begeistert. Als sie schließlich doch einem Treffen zustimmt, fragt sie misstrauisch, was man hier eigentlich wolle. Und macht dann eine scherzhafte Geste, dass sie der Reporterin an den Kragen will, wenn es noch einen „Negativartikel“ gibt.

Alles Alpakas: Tiergehege in Voigtsdorf
Alles Alpakas: Tiergehege in VoigtsdorfLucia Baumann

Schule, Kita, eine ärztliche Sprechstunde oder einen Laden für den täglichen Gebrauch gibt es in Voigtsdorf schon lange nicht mehr. Aber die Leute sehen sich nicht als Opfer des demographischen Wandels oder einer maroden Infrastruktur. Ganz im Gegenteil. Jene, die geblieben sind – entweder weil sie nie woanders waren oder weil sie nicht mehr fortwollten –, verteidigen ihr Voigtsdorf mit erstaunlicher Vehemenz, noch bevor sie überhaupt danach gefragt werden. Schönfelder spricht mit einem Selbstbewusstsein über die Gemeinde, als wäre er vom Stadtmarketing. Nicht weil sie hier besonders gut versorgt wären. Sondern weil es sich die Voigtsdorfer in Voigtsdorf schön machen. So gut es eben geht, mit dem, was sie haben.

Ihnen bleibt auch wenig anderes übrig. Obwohl Voigtsdorf offiziell autark geblieben ist, scheinen die wirklich wichtigen Entscheidungen von anderen getroffen zu werden. Und bei denen stoßen sie auf taube Ohren. Anstatt eigenständig Beschlüsse zu fassen, sehe man sich regelmäßig gezwungen, Forderungen des Landes oder des Amtes Woldegk umzusetzen. So erinnert sich zumindest Schönfelder an die Zeit, als er selbst noch Teil der Gemeindevertretung war. Wegen ihrer hohen Verschuldung sollte die Gemeinde in der Vergangenheit etwa die Steuern erhöhen. Jedoch sind im Ort gar keine Gewerbe niedergelassen, deren Abgaben man anheben könnte. Also sollte man an die Hunde- und Grundsteuer ran. Das Amt sitze ihnen ständig im Nacken, so beschreibt es einer vor dem Gemeindehaus: „Immer abzocken, den Bürger.“

Die AfD profitiert davon, dass sich niemand um den ländlichen Raum kümmert

Sei es die drohende Schließung des Kulturhauses, der Bau der Autobahn oder der nicht gebaute Schallschutz: Der Staat begegnet den Voigtsdorfern als einer, der viel von ihnen fordert, aber immer weniger leistet. Zu teuer, zu viel – das hören sie vonseiten der Entscheidungsträger oft. Irgendwo werden Fahrradwege gebaut, aber hier müssen sie um alles betteln, sagt einer. Zwischenzeitlich stand sogar der Vorschlag im Raum, nachts bloß noch jede zweite Straßenlaterne anzuschalten, um Strom zu sparen. Wenn wir schon untergehen, dann aber bitte bei Licht, habe Schönfelder da gesagt. Wenn man den Staat braucht, ist er nicht da. Zumindest nicht in Voigtsdorf.

Das Verhältnis zur Landeshauptstadt ist davon belastet. „Die haben doch gar nicht gewusst, was los ist auf den Dörfern“, sagt eine gebürtige Voigtsdorferin beim Rentnertreff. Einmal im Monat ist die lange Tafel im Gemeindehaus mit Porzellan eingedeckt. Bei Mettbrötchen und Kuchen unterhalten sich die Pensionäre über ihre Enkelkinder und Arztbesuche. Das Ergebnis der letzten Bundestagswahl bereite ihr Sorgen, sagt eine Rentnerin. Schuld daran sei unter anderem eine Politik, die zu weit entfernt ist vom Alltag. Der Saal des Gemeindehauses, wo die Herrschaften jetzt von Kaffee auf Alkoholisches umsteigen, diente bei der Bundestagswahl als Wahllokal. In einer Ecke des Raumes steht noch die Wahlkabine. Jeder Zweite hat seine Kreuze bei der AfD gemacht.

Im Gemeindehaus treffen sich die Rentner einmal im Monat zu Kaffee und Kuchen – es ist einer der letzten Treffpunkte im Dorf.
Im Gemeindehaus treffen sich die Rentner einmal im Monat zu Kaffee und Kuchen – es ist einer der letzten Treffpunkte im Dorf.Lucia Baumann

Trotzdem sind sich die Voigtsdorfer keinesfalls immer einig. Nach zwei Bier diskutieren sie leidenschaftlich über Politik. Vom Ärger über die da oben ist es dann manchmal nicht mehr weit zum Ärger über die ukrainischen Geflüchteten, die in Berlin angeblich keine Parkgebühren zahlen müssten oder in Neubrandenburg nicht arbeiten gingen. Wenn der Staat nicht in Voigtsdorf ist, warum hilft er dann Schutzsuchenden in den Großstädten?

An einer lebendigen Debattenkultur mangelt es nicht. „Wir wissen, dass wir manchmal verschiedener Meinung sind, das gehört zu einem guten Leben dazu“, sagt Schönfelder. Über ihre Differenzen können die meisten Voigtsdorfer hinwegsehen. Dem friedlichen Miteinander zuliebe. Und weil ihnen von außerhalb wenig Gehör geschenkt wird. Wenn das anders wäre, bräuchte es auch keinen Zaun.