Eine Absage an die EU-Erweiterung

6

Es gibt eine vier Sätze kurze Passage im Koalitionsvertrag der künftigen Bundesregierung, die bisher wenig Aufmerksamkeit erhielt, obwohl sie außenpolitisch von einschneidender Wirkung sein könnte. „Die Erweiterung der EU und ihre Aufnahmefähigkeit müssen Hand in Hand gehen. Deshalb brauchen wir spätestens mit der nächsten Erweiterung eine innere Konsolidierung und Reform der EU, die sie institutionell stärkt“, lautet die erste Hälfte. Die zweite: „Das Konsensprinzip im Europäischen Rat darf nicht zur Entscheidungsbremse werden. Dies gilt grundsätzlich auch für die verbliebenen Entscheidungen mit Einstimmigkeit im Rat der EU.“

Ohne Moskau ginge nichts

Im Kern ist das eine Absage Berlins an die bisherige Rhetorik (eine Politik kann man es ohnehin schon seit Jahren nicht mehr nennen) der EU-Erweiterung. Denn damit ist formuliert, was schon lange gilt: Die mangelnde Beschlussfähigkeit der EU ist ein zentrales Hindernis für die Aufnahme neuer Mitglieder. Jede neue Vollmitgliedschaft brächte schließlich auch ein zusätzliches Vetorecht im Europäischen Rat in jenen Politikfeldern mit sich, die einstimmige Entscheidungen verlangen.

Nähme die EU alle Staaten auf, die ihren Beitrittswunsch signalisiert haben oder darüber bereits verhandeln, hätte das zur Folge, dass etwa in der Außenpolitik nichts mehr gegen den Willen Belgrads, Chișinăus, Kiews, Sarajevos, Skopjes, Podgoricas, Prishtinas oder Tiranas entschieden werden könnte.

Wer sich die innere Verfasstheit und die außenpolitische Orientierung dieser Staaten vor Augen führt, kann sich leicht ausmalen, welche Folgen das in einigen Fällen haben könnte. Beispiel Serbien: Abgesehen von den rechtsstaatlichen Rückschritten in Serbien hätte eine Aufnahme dieses Staates mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Folge, dass in der EU kaum noch etwas gegen Moskau entschieden werden könnte.

Das ist, siehe Ungarn, schon jetzt oft schwer genug. Beispiel Moldau: Dort ist derzeit noch die dezidiert prowestliche Präsidentin Maia Sandu an der Macht. Aber die Präsidentenwahl im vergangenen Jahr hat gezeigt, auf welch dünnem Eis Sandu wandelt. Nur durch die Stimmen der Diaspora in Westeuropa wurde sie wiedergewählt.

Macron warnt schon seit Jahren

Wäre es nach der Mehrheit der im Lande lebenden Moldauer gegangen, wäre ein von Sandu initiiertes EU-Referendum gescheitert, und die Amtsinhaberin wäre zugunsten eines prorussischen Herausforderers abgewählt worden. Ob Sandus Partei ihre Mehrheit bei der Parlamentswahl in diesem Jahr halten kann, ist ungewiss.

Der französische Präsident Emmanuel Macron warnt seit Jahren davor, den Staaten am Rande der EU allzu leichtfertig eine Mitgliedschaft zuzusagen. In mehreren Reden hat er hervorgehoben, dass die EU schon mit 27 Mitgliedern mitunter nur noch mehr schlecht als recht funktioniere. Wie solle man sich da eine Union vorstellen, die 35 Mitglieder hätte, aber ihre alten Regeln beibehielte?

Die erwähnte Passage im deutschen Koalitionsvertrag ist damit auch ein Zeichen für außenpolitischen Realismus. Denn eine Überwindung des bisherigen Zustands, also ein Wechsel zu der Möglichkeit, im Europäischen Rat nur noch mit Mehrheit zu entscheiden, ist unwahrscheinlich bis aussichtslos.

Mangelnde Klarheit auch in Wien

Zwar wird seit Jahren behauptet, eine Reform stehe an, doch die zur Abschaffung der Einstimmigkeit nötige Einstimmigkeit ist nicht in Sicht. Macht man ihre Abschaffung zur Voraussetzung für die Aufnahme neuer EU-Mitglieder, wie nun im Koalitionsvertrag gefordert, bedeutet das auch: Eine EU-Erweiterung ist nicht in Sicht.

Alle Beteiligten wissen das, doch waren frühere Bundesregierungen bisher nicht willens, diese Einsicht in der gebotenen Klarheit zu artikulieren. Die mangelnde Klarheit gibt es nicht nur in Berlin, wie ein Blick nach Wien zeigt. Dort hat die österreichische Europaministerin Claudia Plakolm von der konservativen ÖVP dieser Tage gesagt, sie wünsche sich, dass die EU bis spätestens 2030 neue Mitglieder aufnehme.

Plakolm sprach von der Möglichkeit einer zeitweiligen Aussetzung des Einstimmigkeitsprinzips. Es wäre sinnvoller, erst zum Ende der Beitrittsverhandlungen wieder auf die Einstimmigkeit zurückzukommen. Wie sich die Notwendigkeit zur Einstimmigkeit temporär aufheben ließe und was damit gewonnen wäre, wenn sie am Ende doch wieder gälte, wurde dabei nicht recht deutlich. So geht es oft: In Sonntagsreden wird die EU-Erweiterung beschworen, ohne dass die dräuenden Schwierigkeiten wirklich zur Sprache kommen.

Insofern ist die Ankündigung des deutschen Koalitionsvertrags ein Fortschritt. An anderer Stelle des Dokuments unterlaufen CDU/CSU und SPD dann aber ihre eigene Klarheit. „Der wichtige EU-Beitritt der sechs Länder des Westbalkans, der Ukraine und der Republik Moldau liegt im wechselseitigen Interesse. Wir wollen die Unterstützungsanstrengungen der EU und ihrer Mitgliedstaaten konsequent fortsetzen“, heißt es da. Sofern gelten soll, dass eine Reform der EU vor ihrer Erweiterung kommen muss, nicht realistisch.

Dabei gibt es schon seit Jahren eine Idee, wie sich den Beitrittskandidaten ein attraktives Ziel bieten ließe, ohne zugleich die EU mit neuen vetoberechtigten Mitgliedern zu belasten. Es handelt sich um das Modell eines Zugangs der betroffenen Staaten zum gemeinsamen Markt der EU – nach Erfüllung fast aller Kriterien, die auch für eine Vollmitgliedschaft erreicht werden müssten. Die Anforderungen blieben also hoch. Sie wären aber womöglich leichter erfüllbar, weil das Ziel realistisch und attraktiv zugleich ist. Ein solches Vorgehen würde den Rechtsraum der EU erweitern, ohne ihre politischen Strukturen zu belasten.