Wie wir von Neurodiversität profitieren können

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Stand: 14.04.2025 05:00 Uhr

ADHS und Autismus sind mehr als Modethemen auf TikTok und Instagram. Die Erkenntnis wächst, dass jedes menschliche Gehirn anders arbeitet. Darin liegt ein großes Potenzial für alle.

Auf Social Media trenden Anleitungen zur Selbstdiagnose. Viele stellen die Symptome von ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) und Autismus (medizinisch: Autismus-Spektrum-Störung) aber falsch oder ungenau dar. Oft verstärken sie Vorurteile und Stereotypen wie das vom konzentrationsunfähigen ADHS-Zappelkind oder sozial isoliert lebenden Autisten mit seltsamem Verhalten.

TikTok-Tests: Oft irreführend, aber auch hilfreich

Eine neue Studie aus den USA zeigt, dass gerade populäre TikTok-Videos zum Thema inhaltlich große Schwächen haben. Die darin angeführten ADHS-Symptome sind aus medizinischer Sicht zu über 50 Prozent gar nicht ADHS-typisch, sondern “normale menschliche Erfahrungen“. Jugendliche, die ihre Informationen zum Thema von Social Media beziehen, überschätzen laut der Studie, wie weit ADHS verbreitet ist und nehmen leichter an, selbst betroffen zu sein. Den gleichen Effekt hatte schon 2023 eine Studie zu TikTok-Infos über Autismus nachgewiesen.

Dass die Selbsttests im Internet so erfolgreich sind, zeigt aber auch ein großes Informationsdefizit auf. #ADHD (oder deutsch #ADHS) und #autism zählen auf Social Media zu den zehn am häufigsten genutzten gesundheitsbezogenen Hashtags. Oft sind die Clips die einzig zugängliche Informationsquelle. Sie schaffen aber auch Bewusstsein für ein vernachlässigtes Problem und können helfen, Vorurteile abzubauen. Für Betroffene kann die Selbstdiagnose per Social Media zumindest ein wichtiger erster Schritt sein, die richtigen Fragen zu stellen und eine offizielle Diagnose zu suchen.

ADHS: Chaos im Kopf und Hyperfokus

ADHS ist eine psychische Störung, die bei Kindern und Jugendlichen häufiger auftritt, aber auch lebenslang anhalten kann. Als wichtigste Symptome gelten Hyperaktivität, Unaufmerksamkeit und impulsives Verhalten. Ein Betroffener schildert das etwa so: “Es ist, als wenn durch deinen Kopf ein Fließband an Gedanken gehen würde. Wenn ich irgendwas angucke, schießt sofort ein Wort dazu in den Kopf oder irgendeine Erinnerung oder irgendwas, was ich mir einfach dazu denke. Stell dir vor, es sind so 15 bis 20 Seile an dir befestigt und ziehen dich in verschiedene Richtungen“. Für viele Betroffene ist ADHS mit psychischen Krankheiten und sozialen Schwierigkeiten verbunden.

Autismus-Spektrum-Störung (ASS)

Autismus kann vielfältige Formen annehmen, daher sprechen Fachleute auch nicht mehr von dem Autismus, sondern von einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS). Die in der Medizin lange gültige Unterscheidung in frühkindlichen Autismus, Asperger-Autismus und atypischen Autismus, gilt als überholt.

Häufige Merkmale im Autismus-Spektrum sind etwa ein besonderer Umgang mit anderen Menschen. Viele Menschen mit Autismus vermeiden Blickkontakt, können sich nur schwer in andere hineinversetzen oder Ironie verstehen. Manche von ihnen haben Schwierigkeiten beim Sprechen lernen oder sprechen eher monoton. Typisch kann auch sein, dass feste Rituale und Routinen sehr wichtig sind. Allerdings sind Autismus-Spektrum-Störungen individuell so verschieden, dass keine dieser Besonderheiten bei Betroffenen auftreten muss.

Neurodiversität: Anders sein ist keine Krankheit

Menschen mit Autismus oder ADHS werden auch als neurodivergent bezeichnet, weil ihr Gehirn anders arbeitet als beim Durchschnitt. Viele wünschen sich ein Ende der Aufteilung in neurodivergent und neurotypisch, was oft gleichgesetzt wird mit “psychisch krank“ und “psychisch gesund“. Aber wie viele Menschen sind eigentlich nicht neurotypisch? Die Antwort fällt je nach Studienlage von Land zu Land unterschiedlich aus. Britische Forschende schätzen, dass drei bis vier Prozent der Bevölkerung ADHS haben, mehr als drei Prozent fallen vermutlich ins autistische Spektrum. In Deutschland fehlen belastbare Daten, aber hier sieht es wohl ähnlich aus.

Wie kommt es, dass unsere Gehirne so unterschiedlich ticken?

“In einem Kubikmillimeter Gehirn sind mehr Verbindungen als in der Milchstraße Sterne. Das führt dazu, dass keine zwei menschlichen Gehirne gleich sein können“, sagt André Zimpel, Leiter des Zentrums für Neurodiversitätsforschung an der Universität Hamburg. Für ihn hat jeder Mensch seine individuelle Art der Informationsverarbeitung.

Drei Aufmerksamkeitssysteme steuern, was wir von der Welt wahrnehmen. Aufmerksamkeitssystem Nummer eins alarmiert uns bei Überraschungen. Es macht uns wach und konzentriert. Bei Autisten wird es oft sehr leicht aktiviert – und bei Menschen mit ADHS relativ spät. Das zweite Aufmerksamkeitssystem ordnet Reizen Bedeutung zu und sortiert, was zusammengehört. Je nachdem sehen wir zum Beispiel einen Ast, einen ganzen Baum oder einen Wald. Dieses System ist bei vielen Autisten erweitert, deshalb nehmen sie mehr Details wahr. Mit dem dritten System können wir Aufmerksamkeit bewusst steuern, etwa, indem wir uns sagen: Schlaf jetzt nicht ein, konzentriere dich, denke logisch! Menschen mit ADHS ermüden daher bei monotonen Aufgaben schnell.

Experimente zeigen: Die Empfindlichkeit dieser drei Aufmerksamkeitssysteme kann individuell unterschiedlich ausgeprägt sein. Das heißt, jemand kann zum Beispiel in einer Dimension ins autistische Spektrum fallen, in einer anderen aber starke ADHS-Merkmale zeigen.

Wie kann die Gesellschaft davon profitieren?

Neurodiverse Menschen haben sehr oft Probleme bei der Jobsuche. Je nach Studie liegt die Arbeitslosigkeit etwa bei autistischen Menschen zwischen 40 bis 60 Prozent. Selbst die hervorragend ausgebildeten und überdurchschnittlich intelligenten scheitern am ersten Arbeitsmarkt häufig.

Was ihnen oft helfen würde: ein ruhiges Arbeitsumfeld, unterstützende Technik, Rückzugsbereiche und dazu individuelle Arbeitszeiten. Wichtig für alle wäre, möglichst schon in der Schule zu verstehen, wie wir ticken, sagt Neurodiversitätsforscher André Zimpel: “Wenn ich weiß, worin mein Nervensystem besonders gut ist und wo ich Hilfe brauche, dann wird der Bildungserfolg besonders groß sein.“

Mehr zu diesem Thema sehen Sie in der Dokumenation “Neurodiversität: Wie normal ist anders?” in der ARD-Mediathek.