Koalitionskrach um 15 Euro Mindestlohn

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Was haben Union und SPD im Koalitionsvertrag vereinbart?

Der Vertragstext lautet: „Die Entwicklung des Mindestlohns muss einen Beitrag zu stärkerer Kaufkraft und einer stabilen Binnennachfrage in Deutschland leisten. An einer starken und unabhängigen Mindestlohnkommission halten wir fest. Für die weitere Entwicklung des Mindestlohns wird sich die Mindestlohnkommission im Rahmen einer Gesamtabwägung sowohl an der Tarifentwicklung als auch an 60 Prozent des Bruttomedianlohns von Vollzeitbeschäftigten orientieren. Auf diesem Weg ist ein Mindestlohn von 15 Euro im Jahr 2026 erreichbar.“

Schwer zu sagen. Eines ist aber wohl klar: Der Text besagt nicht, dass die künftige Koalition die unabhängige Mindestlohnkommission entmachtet und ein Gesetz erlässt, das 15 Euro je Stunde festlegt. Geht man davon aus, dass die Entscheidung in den Händen dieser Kommission mit je drei Arbeitgeber- und Gewerkschaftsvertretern bleiben soll, ist eigentlich der ganze Streit schwer zu erklären. Friedrich Merz (CDU) könnte dann gar nicht beeinflussen, ob der Mindestlohn zum 1. Januar 2026 auf 15 Euro steigt.

Warum gibt es dann dennoch solche Empörung in der SPD?

Es könnte daran liegen, dass Merz missverstanden wurde. Jedenfalls hat er keine politischen Pläne zur Debatte gestellt, die einen Anstieg des Mindestlohns auf 15 Euro verhindern oder verzögern sollen. Der Zeitung „Bild am Sonntag“ sagte er: „Wir haben verabredet, dass wir davon ausgehen, dass die Mindestlohnkommission in diese Richtung denkt“. Es werde aber „keinen gesetzlichen Automatismus geben“. Der Mindestlohn könne bei 15 Euro zum 1. Januar 2026 oder 2027 liegen. „Aber das bleibt die Aufgabe der Mindestlohnkommission.“

Hat die SPD Friedrich Merz wirklich missverstanden?

Falls nicht, würde dies zum einen bedeuten, dass sich die SPD vom Konzept einer unabhängigen Mindestlohnkommission verabschiedet hat. Zum anderen wäre dann festzustellen, dass sie im Text des Koalitionsvertrags den Auftrag zu einer Gesetzesänderung erkennt.

Was sagt der geschäftsführende Bundesarbeitsminister dazu?

Hubertus Heil (SPD) leitet aus dem Koalitionsvertrag eine indirekte Vorgabe für die Mindestlohnkommission ab. „Für den Mindestlohn haben wir besprochen, dass wir die 15 Euro erreichen wollen im Jahre 2026, und das machen wir, indem die Mindestlohnkommission sich an die eigene Geschäftsordnung hält“, sagte Heil am Montag im ZDF. Er ließ offen, inwieweit die geplante Koalition dazu Druck auf die Kommission ausüben wolle. Mit einer gesetzlichen Regelung drohte er nicht.

Wie läuft das Entscheidungsverfahren der Mindestlohnkommission ab?

Das Mindestlohngesetz gibt ihr vor, alle zwei Jahren einen Beschluss über die Anpassung der allgemeinen Lohnuntergrenze zu fassen. Der nächste Beschluss steht zum 30. Juni 2025 an. Das Gremium besteht aus je drei stimmberechtigten Vertretern der Arbeitgeber und der Gewerkschaften sowie der Vorsitzenden Christiane Schönefeld; ihre Stimme kann dann den Ausschlag geben, falls sich sonst ein Patt ergäbe.

Welche Kriterien muss die Kommission bei ihren Entscheidungen beachten?

Das ist im Mindestlohngesetz geregelt. Es fordert eine „Gesamtabwägung, welche Höhe des Mindestlohns geeignet ist, zu einem angemessenen Mindestschutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beizutragen, faire und funktionierende Wettbewerbsbedingungen zu ermöglichen sowie Beschäftigung nicht zu gefährden“. Einen Maßstab gibt ihr das Gesetz konkret vor: „Die Mindestlohnkommission orientiert sich bei der Fest­setzung des Mindestlohns nachlaufend an der Tarifentwicklung.“

Heute beträgt der Mindestlohn 12,82 Euro. Würde die Kommission ihrem Beschluss im Juni die Tariflohnentwicklung der zurückliegenden zwei Jahre zugrundlegen, ergäbe sich ein Plus von knapp acht Prozent. Das würde zu einem Betrag zwischen 13,80 und 13,90 Euro führen.

Ist das eine plausible Größenordnung?

Nach den gesetzlichen Vorgaben müsste die Kommission diesmal wohl stärker als früher die Ziele „funktionierende Wettbewerbsbedingungen“ und „Beschäftigung nicht gefährden“ beachten. Das könnte ein Anlass sein, un­ter dem Tariflohnanstieg zu bleiben. Seit dem Beschluss von Mitte 2023 ist die Arbeitslosenzahl um 13 Prozent gestiegen, die Zahl der Langzeitarbeitslosen um 16 Prozent. Die Arbeitslosenquote von Menschen ohne Berufsabschluss beträgt im Osten 30­ Prozent.

Warum ist dann von 15 Euro und von 60 Prozent des Medianlohns die Rede?

Im Gesetz steht davon nichts. Das 60-Prozent-Kriterium findet sich aber in einem Katalog unverbindlicher Kriterien, den die EU-Mindestlohnrichtlinie benennt. Dass sie als unverbindlich anzusehen sind, legt auch eine Mitteilung des Bundesarbeitsministeriums nahe: Es meldete im Herbst nach Brüssel, dass die Richtlinie hierzulande schon ordnungsgemäß um­gesetzt sei. Zugleich gibt es starke Zweifel, ob die Richtlinie gültig ist. Der Generalanwalt beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) kam im Januar zur Auffassung, dass die EU nicht zu solchen Regelungen befugt sei. Das Gerichtsurteil steht noch aus.

Wie viel sind 60 Prozent des Medianlohns?

Laut Statistischem Bundesamt lag der mittlere Bruttostundenverdienst vollzeitbeschäftigter Arbeitnehmer im vierten Quartal 2024 bei 23,49 Euro. 60 Prozent davon sind 14,09 Euro. Um im Juni auf 15 Euro zu kommen, müsste die Kommission den Wert noch hochschrauben.

Warum spielt das 60-Prozent-Kriterium eine solche Rolle?

Abgesehen von dem Druck, den SPD und Gewerkschaften damit machen, findet es sich auch in einer neuen Geschäftsordnung, die sich die Mindestlohnkommission gegeben hat. Diese sieht eine „Gesamtabwägung“ vor, die sich „nachlaufend an der Tarifentwicklung sowie am Referenzwert von 60 Prozent des Bruttomedianlohns“ orientiert.

Warum haben die Arbeitgeber in der Kommission das mitgemacht?

Als die neue Geschäftsordnung der Kommission im Januar öffentlich wurde, hat dies viele Beobachter überrascht und etliche Arbeitgebervertreter verärgert. Zuvor hatte das Gremium ohne eigene Geschäftsordnung gearbeitet. Einige Arbeitgebervertreter betonen nun, dass die 60 Prozent auch jetzt nur eines von mehreren Kriterien seien. Zudem stehe die Geschäftsordnung nicht über dem Gesetz. Überraschend kam die Wendung auch insofern, als das Regelwerk kurz nach den Zweifeln an der EU-Richtlinie bekannt wurde. Verabredet hatten die Sozialpartner sie wohl schon im Herbst. Damals wurde erwartet, dass die Bundestagswahl nach dem neuen Mindestlohnbeschluss im Juni stattfinden werde. Eine „freiwillige“ kräftige Erhöhung durch die Kommission hätte dann vielleicht einen Mindestlohnwahlkampf dämpfen können.