„Das ist der richtige Weg“

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Der Sozialdemokrat, umgangssprachlich Genosse genannt, ist ein komplexes und schwer zu durchschauendes Wesen. Da findet also eine Informationsveranstaltung für alle SPD-Mitglieder zum Koalitionsvertrag in Hannover statt. 700 Plätze fasst der Saal, angeblich gab es 1000 Anmeldungen. Aber dann sind doch einige Plätze am Montagabend frei geblieben. Was hat das nun zu bedeuten?

Haben die Sozialdemokraten, die nicht gekommen sind, keinen Informationsbedarf mehr und schon beschlossen, für den Koalitionsvertrag mit CDU/CSU zu stimmen? Oder haben sie stattdessen schon entschieden, gegen dieses Bündnis zu stimmen, so wie es einige Stunden zuvor der Juso-Vorsitzende empfohlen hat?

Optimistische SPD-Spitze

Das Mitgliedervotum ist eine Herausforderung für die SPD. Die 358.000 Genossen sind keine homogene Gruppe. Zudem ist über die vergangenen Jahre der Anteil der Jusos unter den SPD-Mitgliedern gestiegen. Ironischerweise durch die Kampagne gegen eine frühere große Koalition, Ende 2017 und Anfang 2018. Durchsetzen konnten sich die Parteijugend mit ihrer gut geplanten Kampagne und dem charismatischen Anführer Kevin Kühnert aber nicht. Damals stimmte ein Drittel der Sozialdemokraten gegen den Vertrag. Das lässt die SPD-Spitze auch jetzt optimistisch sein.

Während SPD-Chef Lars Klingbeil den Genossen in Hannover am Montagabend streng ins Gewissen redet, versucht seine Ko-Vorsitzende Saskia Esken die roten Herzen zu erreichen. „Es steht verdammt viel auf dem Spiel“, sagt Klingbeil. Er redet atemlos. Der Mann will vorwärts. Vieles lasse sich heutzutage nicht mehr vorhersagen, sei unsicher: die amerikanische Unterstützung, der Frieden. Dann brauche es wenigstens eine stabile Regierung. Klingbeil spricht von einer „verdammt hohen Verantwortung“. Sozialdemokraten duckten sich nicht weg.

Unbeliebtes SPD-Thema: Migration

Auf den Sitzplätzen hatte die SPD ein doppelseitiges, engbedrucktes Papier ausgelegt mit all den Punkten, die die SPD in den Verhandlungen mit der Union durchsetzen konnte. Für eine 16,4-Prozent-Partei steht da eine Menge drauf. Ganz am Ende sogar ein paar Punkte zur Migration. Das Thema unterschlägt die SPD sonst gerne. Es hatte sich in den vergangenen Jahren an der SPD-Spitze die Ansicht durchgesetzt, dass mit dem Thema bei den SPD-Wählern nichts zu gewinnen sei. Aber vielleicht ja bei denen, die früher mal SPD-Wähler waren?

Zumindest spricht Klingbeil das Thema am Montagabend aktiv an. Es sei klar, dass Migration geordnet und gesteuert werden müsse. Gleichzeitig sei man nicht – das Wortspiel ist wohl nicht geplant – über eine gewisse Grenze gegangen. Er meint wohl das Beibehalten des individuellen Rechts auf Asyl im Grundgesetz. Das Publikum applaudiert.

Großes Meinungsspektrum

In den Fragen der Genossen äußert sich dann zugewandte Kritik, kein No-Groko-Furor. Ein junger Mann will etwas zur Beteiligung seiner Generation wissen, eine ältere Frau findet die Pflegekosten zu hoch. Da fällt es Manuela Schwesig, Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, leicht, voll und ganz zuzustimmen. Es sei gut, dass das Programm „Demokratie leben“ gegen den Willen der Union fortgeführt werde. Und an den Pflegekosten sei man dran. Applaus. Genauso gibt es den in Niedersachsen für die Festlegung der künftigen Koalitionäre, die Atomenergie nicht reaktivieren zu wollen.

In verteilten Rollen versucht die SPD-Spitze die diffuse Meinungswelt der Genossen zu erreichen. Am Montagabend ist es nicht Verteidigungsminister Boris Pistorius, der als erster über Deutschlands Verteidigung spricht, sondern Schwesig. Die Frau, die sich lange für die Gaspipeline Nord Stream II eingesetzt hat, sagt nun, dass sie lange der Meinung gewesen sei, dass Milliardeninvestitionen nicht in Rüstung, sondern Bildung gehen müssten. Das habe sich mit dem russischen Überfall auf die Ukraine geändert. Pistorius sekundiert: Der Klimawandel müsse bekämpft werden – und gleichzeitig müsse Deutschland wieder abschreckungsfähig werden.

Viel erreicht, manches verhindert

Eskens Aufgabe ist es, in Mitgefühl die sozialen Härten auszusprechen. Es werde mit der Union jetzt keine Erhöhung der Vermögens- und Erbschaftssteuer geben. Diese Messe sei gesungen. Aber man werde dranbleiben. Insgesamt tragen die SPD-Spitzenpolitiker da auf der Bühne drei Argumente vor: viel erreicht, manches verhindert, und es gibt keine Alternative.

Gerade junge Sozialdemokraten fremdeln mit CDU-Chef Friedrich Merz, das wird auch an diesem Abend deutlich. Gerade anhand der Diskussion über den Mindestlohn glauben manche Genossen alles Schlechte an Merz identifizieren zu können. Wird er nun auf 15 erhöht und wann? Arbeitsminister Hubertus Heil springt jetzt auf von seinem Stuhl und wirft sich ins Thema. Man solle nicht reinfallen auf CDU-Propaganda, sagt er. Die SPD kämpfe für Löhne und Arbeitsplätze – und habe das Arbeitsministerium verteidigen können. Eine tolle Leistung, findet er.

Aber die Abstimmung der Genossen läuft jetzt erst an. Von diesem Dienstag bis zum 29. April wird digital abgestimmt. Nur wenn die Mehrheit der Sozialdemokraten zustimmt, bleibt die SPD an der Regierung, kommt es zu einer Koalition, wird Merz Kanzler. Klingbeil entwirft ein düsteres Bild von einer Zeit ohne SPD in der Regierung. Wenn sich die Mitglieder mehrheitlich gegen die Union aussprechen sollten, dann würde es Neuwahlen geben oder eine Minderheitsregierung. Wenn diese Koalition nun scheitere, dann würden diejenigen Stimmen in der Union lauter, die eine Öffnung in Richtung der AfD forderten. Deswegen sei das schwarz-rote Bündnis alternativlos. „Das ist der richtige Weg. Diesen Weg sollten wir gehen.“