Diesmal kämpfen die Genossen für Schwarz-Rot

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Wie, ihr schon wieder?“ Das fragt ein Mann betont ironisch, als er sich dem Osterstand der SPD vor einem Supermarkt in Herne-Röhlinghausen nähert. „Ihr habt doch gerade erst die Bundestagswahl verloren.“ Die Genossen nehmen die Fopperei gelassen hin, drücken dem Mann einen Schokoosterhasen und ein Flugblatt in die Hand, auf dem sie in sieben Punkten die wichtigsten Verbesserungen geschrieben haben, die der mit der Union ausgehandelte Koalitionsvertrag für Herne, Bochum und das ganze Ruhrgebiet aus ihrer Sicht bringt.

In Herne am Nordrand des Ruhrgebiets schnitt die SPD im Februar mit 25,9 Prozent immerhin neuneinhalb Prozentpunkte besser ab als im Bundesschnitt und blieb damit führende politische Kraft. Auch das Direktmandat im Wahlkreis Herne-Bochum II hat die Partei verteidigen können. Mit 33,5 Prozent setzte sich der erstmals angetretene Hendrik Bollmann gegen die Konkurrenz von CDU und AfD durch. Das ist zwar kein Vergleich zu den Werten jenseits von 60 Prozent, die Sozialdemokraten noch bis in die 1990er-Jahre vielerorts im Ruhrgebiet einfuhren.

Doch ihren Volksparteianspruch versuchen die Genossen in Herne mit Selbstbewusstsein und Ausdauer zu verteidigen. Ob gerade Wahlkampf ist oder nicht, einmal im Monat gibt es samstags einen Infostand vor dem Rathaus, damit auch jene ihre Anliegen oder ihren Ärger loswerden können, die unter der Woche nicht den Weg zur SPD finden. „Wie der Weihnachtsstand hat auch unser Osterstand Tradition“, sagt Manuela Lukas vom Ortsverein Röhlinghausen und packt sich ein Dutzend Schokohasen und bunt gefärbte Eier in ihr Körbchen. Auf dem Klapptisch liegt neben dem Stapel mit den Flugblättern auch ein ausgedrucktes Exemplar des Koalitionsvertrags parat, damit die Genossen auch gewappnet sind, wenn Bürger besonders ins Detail gehen wollen.

Die Hilfe bei den Altschulden als Durchbruch

Lukas ist seit 30 Jahren Stadtverordnete der SPD in Herne, die zum SPD-Regionalverband Westliches Westfalen gehört. Gerade aus kommunalpolitischer Sicht sei der Koalitionsvertrag sehr gelungen, sagt die Sozialdemokratin. Hendrik Bollmann, der bis zu seiner Wahl zunächst Lehrer an einer Hauptschule und später an einem Berufskolleg war, stimmt zu. „Die 100 Milliarden Euro aus dem Sondervermögen für Länder und Kommunen sind ein Riesenschritt. Das hat die SPD schon lange gefordert, wäre das früher gekommen, dann wäre die AfD nicht so stark geworden.“ Lukas, die unter anderem im Finanz-, Planungs-, Sicherheits- und Schulausschuss des Herner Rats sitzt, führt weitere Punkte auf.

Ein Durchbruch sei, dass der Bund sich endlich bereit erklärt habe, für die Lösung der Altschuldenkrise – also für den Abbau des Milliardenbergs an Kassenkrediten, die finanzschwache Kommunen wie Herne aufgehäuft haben – immerhin 250 Millionen Euro jährlich beizusteuern. Als großen Erfolg für die Kommunen in ganz Deutschland sieht die erfahrene Stadtverordnete das Versprechen, dass nach dem Motto „Wer bestellt, bezahlt“ für alle neuen Vorhaben des Bundes das Konnexitätsprinzip gelten soll. Lukas verweist auf Seite 114 im Koalitionsvertrag auf. Dort heißt es: „. . . wenn Bundesgesetze oder andere Maßnahmen des Bundes bei den Ländern und Kommunen zu Mehrausgaben oder Mindereinnahmen führen, muss sichergestellt werden, dass die Mittel auf der ausführenden Ebene ankommen.“

Die Mitglieder des Ortsvereins Röhlinghausen sprechen in diesen Tagen mit vielen Bürgern und Parteifreunden. „Die meisten sagen: Die SPD hat gut verhandelt“, berichtet Lukas. Es gebe auch skeptische Stimmen. Ihr Mann etwa stoße sich an den enormen Summen, die für die Verteidigung ausgegeben werden sollen. „Aber wir müssen ja auf die Aggression Putins reagieren.“ Dass der sozialdemokratische Verteidigungsminister Boris Pistorius der beliebteste Bundespolitiker sei, komme nicht von ungefähr. „Ich bin sicher, dass bei der Mitgliederbefragung eine große Mehrheit für den Koalitionsvertrag zustande kommt.“

Der Hort des Widerstandes ist Geschichte

Geschlossen sprechen sich wie in anderen Bundesländern die nordrhein-westfälischen Jusos gegen den Vertrag aus. Hört man sich in der nordrhein-westfälischen SPD insgesamt um, trifft man allerdings überwiegend auf positiv gestimmte Genossen. 2013 und vier Jahre später war das ganz anders. Als es damals darum ging, Bündnisse zu schmieden, die man noch große Koalitionen nennen konnte, gab es aus der SPD in NRW zunächst heftige, oft kategorische Ablehnung.

Der mit Abstand größte sozialdemokratische Landesverband galt als Hort des Widerstands, der erst mühsam überredet werden musste. Vor zwölf Jahren ließ die damalige SPD-Landeschefin und nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft lange verlauten, die Sozialdemokratie sei bei der Bundestagswahl nicht angetreten, um die Union als Mehrheitsbeschafferin an der Macht zu halten.

Auch Norbert Römer, seinerzeit nicht nur Vorsitzender der SPD-Landtagsfraktion, sondern auch Chef des mächtigen SPD-Regionalverbands Westliches Westfalen, trat als standfester Groko-Gegner auf. In zwei Sätzen gipfelten seine Darlegungen damals: „In der nordrhein-westfälischen SPD gibt es überhaupt niemanden, der die große Koalition will. Wir streben sie nicht an, und am Ende wird es sie nicht geben.“ Vier Jahre später musste Römer dann wieder dabei helfen, die SPD-Mitglieder von den Bäumen zu holen, auf die er sie gemeinsam mit anderen Spitzengenossen erst getrieben hatte.

Der damalige SPD-Landesvorsitzende Michael Groschek zählte dagegen zu jenen, die früh erkannt hatten, wie gefährlich eine Totalverweigerung werden würde. Schritt für Schritt gewöhnte er seine Parteifreunde daran, doch wieder Regierungsverantwortung zu übernehmen, statt sich am Gedanken zu wärmen, die SPD müsse sich in der Opposition erneuern. So aber denken manche Genossen nun wieder.

Für Schwarz-Rot: Marc Herter, SPD-Oberbürgermeister von Hamm
Für Schwarz-Rot: Marc Herter, SPD-Oberbürgermeister von HammPicture Alliance

Heute sitzt der Oberbürgermeister von Hamm, Marc Herter, der SPD-Region Westliches Westfalen vor. Er hält nichts vom Oppositions-Argument. Die Erneuerung der SPD hänge nicht davon ab, ob sie in der Opposition sei. „Ich würde es sogar umdrehen: Es spricht viel dafür, dass man sich durch Regierungshandeln viel besser profilieren kann, als wenn man in der Opposition am Rand steht. Meine Erfahrung ist, dass die Menschen daraufsetzen, dass Dinge geregelt werden, dass wir ins Tun kommen“, sagt Herter, der „sehr zufrieden“ mit dem Koalitionsvertrag ist.

Ebenso äußert sich Sören Link, der sozialdemokratische Oberbürgermeister von Duisburg. Auch er lobt die Versprechen von Union und SPD in Sachen Investitionen und kommunale Finanzen. Besonders würdigt Link die Aussagen zur Migration. „Da ist eine gute Balance gelungen: Wir wollen einerseits die Fachkräftezuwanderung weiter erleichtern und auf der anderen Seite nicht nur illegale Zuwanderung steuern und begrenzen, sondern ausdrücklich auch die Einwanderung in die Sozialsysteme.“

Gegen das kriminelle Ausnutzen der Armutszuwanderung

Wie vielen Städten im Ruhrgebiet macht Duisburg seit Jahren vor allem die Armutszuwanderung von EU-Bürgern aus Südosteuropa zu schaffen. Nach der EU-Osterweiterung erkannten windige Geschäftsleute, dass Armutszuwanderung kriminell ausgenutzt werden kann. Zu Spottpreisen kaufen sie – oft in Zwangsversteigerungen – alte Häuser, die sie dann zu horrenden Tarifen vermieten, sogenannte Schrottimmobilien.

Nicht selten ist perfekt gesteuerter Sozialbetrug Teil des Geschäftsmodells: Die Vermieter versorgen ihre Mieter mit Arbeitsverträgen für geringfügig Beschäftigte, mit denen sie beim Jobcenter Aufstockleistungen beantragen. Handelt es sich bei den Neuankömmlingen um Familien, bekommen sie zudem gezeigt, wie man Kindergeld beantragt, wobei ein Teil davon häufig von den Vermietern abkassiert wird. Oft wird zudem Kindergeld für Kinder beantragt, die gar nicht in Deutschland leben.

CDU/CSU und SPD hätten dazu „klare Botschaften“ im Vertrag formuliert, lobt Link. Tatsächlich versprechen die drei Parteien, die Anreize, in die Sozialsysteme einzuwandern, „deutlich“ zu reduzieren. Wörtlich heißt es im Vertrag: „Großangelegter Sozialleistungsmissbrauch im Inland sowie durch im Ausland lebende Menschen muss beendet werden. Einen vollständigen Datenaustausch zwischen Sozial-, Finanz- und Sicherheitsbehörden werden wir ermöglichen.“ Zudem wird versprochen, das Vorkaufsrecht für Kommunen bei Schrottimmobilien zu stärken.

„Wir müssen in diese Koalition gehen“

Dass die Jusos den Koalitionsvertrag kategorisch ablehnen, hält der Duisburger Oberbürgermeister, früher selbst an führender Position in der SPD-Jugend, für abwegig und weltfremd. Einst seien die Jusos ein wirklich bedeutsamer Jugendverband gewesen. „Heute sind sie bei den jungen Menschen nicht mehr richtig verankert. Bei der Bundestagswahl haben viele junge Menschen bei der AfD oder bei der Linkspartei ihr Kreuz gemacht, das sollte den Jusos zu denken geben.“

Auch der Dortmunder Oberbürgermeister Thomas Westphal rechnet fest damit, dass eine klare Mehrheit der SPD-Mitglieder zustimmen wird – wenn auch nicht mit großer Euphorie. Doch in der SPD werde staatspolitische Verantwortung großgeschrieben. „Und genau darum geht es jetzt. Wir müssen in diese Koalition gehen, und wir müssen es gut machen. Auf keinen Fall darf es bei Schwarz-Rot zu einem Abnutzungskampf kommen wie bei der Ampel, sonst wird die AfD noch stärker.“

Auch der Dortmunder Oberbürgermeister Thomas Westphal unterstützt den Koalitionsvertrag
Auch der Dortmunder Oberbürgermeister Thomas Westphal unterstützt den KoalitionsvertragPicture Alliance

Aus Westphals Sicht wird in dem Papier gut dargelegt, worum es nun geht. „Das muss eine Koalition der ehrlichen Arbeit werden.“ Eine der wichtigsten Fragen sei in dem Vertrag leider nicht beschrieben: „Wie genau das Geld aus dem Sondervermögen zu den Kommunen kommt, also dort, wo es wirklich gebraucht wird, um den Leuten zu zeigen, dass es vorangeht.“

Am Osterstand des Ortsvereins Röhlinghausen in Herne ist der Informationsbedarf groß. Ein älterer Herr sagt, er habe kein Internet und wisse nicht, wo er den Vertrag lesen könne. Bollmann überreicht dem Herrn sein ausgedrucktes Exemplar. Die kommenden Wochen bis zum Ende der diesmal ausschließlich digitalen Abstimmung am 29. April stünden ganz im Zeichen der innerparteilichen Mobilisierung, sagt Bollmann. Mit Ausnahme der Feiertage gebe es nun täglich „Koalitionsveranstaltungen“ wie digitale Mitgliederkonferenzen oder Präsenzforen. Besonderes Augenmerk werde man darauf legen, die bei Genossen jenseits des sechzigsten Lebensjahrs verbreitete digitale Berührungsangst abzubauen, ein Drittel der SPD-Mitglieder in Herne hat noch nicht einmal eine E-Mail-Adresse.

Für Genossen, die kein digitales Endgerät haben oder sich bei der digitalen Stimmabgabe unsicher fühlen, biete man jede nötige technische Unterstützung an, sagt Bollmann. „Hochbetagte Mitglieder können sich von einem Wahltaxi in ein Parteibüro fahren lassen, um dort ihre Stimme abzugeben. Wir tun wirklich alles, damit alle Genossen bei der Mitgliederbefragung teilnehmen können.“