Erst waren es Angehörige der Luftwaffe, die meisten von ihnen im Reservedienst oder Veteranen. Dann kamen Reservisten von Kampftruppen hinzu, aus dem Panzerkorps und der Marine. Dann aus dem Militärgeheimdienst. Dann ehemalige Mossad-Mitarbeiter. Immer mehr mit dem Militär verbundene Israelis unterzeichnen in diesen Tagen Briefe, in denen sie ihren Einspruch gegen die Politik der Regierung zum Ausdruck bringen und ein Ende des Gazakriegs fordern. Dafür trägt allerdings wohl auch die Militärführung selbst Mitverantwortung.
Jeden Tag kommen ein bis zwei neue Protestnoten hinzu. Zuletzt am Dienstag von etwa 200 aktiven und ehemaligen Kampfschwimmern. Sie werden inzwischen ergänzt durch ähnliche Schreiben anderer Gesellschaftsgruppen, etwa von Ärzten oder Akademikern. Auch 350 Autoren, unter ihnen etwa David Grossmann oder Zeruya Shalev, veröffentlichten am Dienstag einen Brief.
Was die Unterzeichner bewegt, ist oft nicht oder nicht in erster Linie das Leid der Palästinenser im Gazastreifen. Vielen geht es vor allem um die 59 verbliebenen Geiseln. Viele sind der Ansicht, dass der Mitte März wiederaufgenommene Krieg nicht das geeignete Mittel ist, die Rückkehr der Entführten sicherzustellen, die seit mehr als anderthalb Jahren dort festgehalten werden und von denen wohl nur noch etwas mehr als zwanzig am Leben sind. Zugleich unterstellen viele dem Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu eigennützige Motive: Er führe den Krieg inzwischen vor allem, um seine Regierungskoalition zusammenzuhalten.
Reservisten der Luftwaffe bilden die Avantgarde
Solchen Protest gibt es seit Monaten. Der heikle Punkt der jetzt öffentlich gewordenen Briefe ist, dass die meisten explizit von Reservisten stammen. Das führt zu der Frage, ob die Unterzeichner keinen Reservedienst mehr leisten werden, falls ihre Forderungen nicht erfüllt werden. Männliche Israelis leisten in der Regel bis zum 40. Lebensjahr Reservedienst, manche auch länger. Hunderttausende sind nach dem 7. Oktober 2023 den Einberufungsbefehlen gefolgt oder haben sich freiwillig gemeldet, manche haben seither Hunderte Tage Dienst geleistet. Die Truppen im Gazastreifen und an anderen Orten setzen sich zu einem beträchtlichen Teil aus Reservisten zusammen.

Für ihr Land zu kämpfen, machen viele Israelis nicht davon abhängig, ob sie politisch mit der Regierung übereinstimmen. Dass sich das grundsätzlich ändern könnte, ist eine Aussicht, die das Militär und die Regierung schrecken dürfte. Schon vor zwei Jahren, als das erste Gesetz der umstrittenen Justizreform verabschiedet wurde, war politischer Protest von Reservisten der Luftwaffe laut geworden. Mehr als 160 teils ranghohe Offiziere verkündeten im Sommer 2023, sie leisteten von nun an keinen Reservedienst mehr, während Tausende weitere Reservisten verschiedener Einheiten mit diesem Schritt drohten. In Israel ist dieser Vorgang bis heute hoch umstritten.
Auch jetzt bildeten Reservisten der Luftwaffe wieder die Avantgarde. Am vergangenen Donnerstag wurde ihr Brief veröffentlicht, den etwa tausend aktive und ehemalige Reservisten unterzeichnet hatten, unter ihnen ein ehemaliger Generalstabschef. In dem Brief hieß es, den Krieg fortzusetzen werde nicht nur zum Tod der Geiseln sowie von Soldaten und unschuldigen Zivilisten führen, sondern auch zur Zermürbung der Reservetruppen. Nur ein Abkommen mit der Hamas führe zur Rückkehr der Geiseln. Eine Drohung, den Reservedienst zu verweigern, enthält der Brief nicht. Allerdings zirkulierten offenbar auch andere Schreiben, in denen ehemalige Offiziere Reservisten zur Dienstverweigerung aufriefen, sollte die Regierung bei ihrem Kurs bleiben.
„Dienstverweigerung ist Dienstverweigerung“
Die Armeeführung hatte zuvor versucht, die Initiatoren des Briefes von der Veröffentlichung abzuhalten, und zahlreiche Unterzeichner kontaktiert, um sie dazu zu bewegen, ihre Unterschrift zurückzuziehen. Medienberichten zufolge drohte Luftwaffenchef Tomer Bar bei Treffen mit Reservisten auch damit, die Unterzeichner würden aus dem Reservedienst entlassen – obwohl er ein neues Waffenruheabkommen befürwortete. Dennoch steckten nur etwa zwei Dutzend Personen zurück, während andere sogar neu unterschrieben, um ihren Protest gegen die Erpressungstaktik zum Ausdruck zu bringen.
Nachdem der Brief veröffentlicht worden war, reagierte die Armeeführung harsch. Bar verkündete, alle aktiven Reservisten unter den Unterzeichnern würden aus dem Reservedienst entlassen. Netanjahu stimmte dem in scharfem Tonfall zu: „Dienstverweigerung ist Dienstverweigerung – auch wenn sie implizit und in höflicher Sprache erfolgt“, hieß es in einer Mitteilung seines Büros. Die Unterzeichner bezeichnete er als „marginale und extremistische Gruppe“, deren Ziel der „Sturz der Regierung“ sei. Netanjahu legte auch nahe, die angedrohte Dienstverweigerung der Luftwaffenreservisten im Sommer 2023 habe zum Terrorangriff der Hamas beigetragen.
Sowohl der Ministerpräsident als auch der Luftwaffenchef haben sich indessen offenbar verkalkuliert: Erst Tomer Bars strenge Sanktionierung dürfte dazu geführt haben, dass viele weitere Reservisten sich mit den Unterzeichnern des ersten Briefes solidarisiert und ähnliche Schreiben aufgesetzt haben. Und die Zahl der Unterzeichner legt nahe, dass es sich nicht nur um eine Randgruppe handelt, sondern dass eine große Zahl von Reservisten nicht einverstanden ist mit der Art der Kriegsführung in Gaza.