Linnemanns Verzicht auf Regierungsposten: Einfach mal nicht machen

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Carsten Linnemann hat seine politischen Ziele auf dem Weg zur Bundestagswahl immer wieder in einem Satz zusammengefasst: „Einfach mal machen!“ Sogar seinen Podcast hat er so genannt. Dem 47 Jahre alten Spross einer Buchhändlerfamilie aus Paderborn hat man seine Ungeduld auf dem Weg zu einem „Politikwechsel“ bisher immer abnehmen können. Er fordert ihn seit Langem und macht den Eindruck, als verbinde er persönlich seine Glaubwürdigkeit damit, dass dieser Wechsel unter einer CDU-geführten Regierung gelingt. Hauptthemen sind dabei die Wirtschafts- und die Migrationspolitik.

Wenn man mit dem sportlichen, schlanken Linnemann an einem Tisch sitzt, sollte man nicht erwarten, dass es nun gemütlich wird. Der Generalsekretär der CDU springt plötzlich auf, weil er eine wichtige Nachricht auf seinem Smartphone erhalten hat, verlässt eiligen Schrittes den Raum, kommt ebenso eilig zurück. Carsten Linnemann dreht immer hoch. Was bei der sehr viel ruhigeren Angela Merkel die Sehnsucht nach dem Durchregieren war, drückt sich bei Linnemann in dem Wunsch des Einfach-mal-Machens aus. Geradezu körperlich strahlt er Fassungslosigkeit darüber aus, dass die Probleme des Landes immer noch nicht gelöst werden.

Und jetzt? Jetzt handelt dieser Mann plötzlich nach der Devise: Einfach mal nicht machen. Der frühere Chef der Mittelstandsunion bekommt dem Vernehmen nach das Wirtschaftsministerium in der nächsten Bundesregierung angeboten und sagt Nein. Will lieber Generalsekretär bleiben, obwohl alle Erfahrung lehrt, dass der Kanzler oder die Kanzlerin ihrem Generalsekretär nicht viel Platz für eigene politische Vorstöße lässt? Was steckt dahinter, wenn das bekannteste Gesicht der von der CDU versprochenen Wende in der Wirtschaftspolitik dankend ablehnt? Geht es Friedrich Merz am Ende weniger um die Wirtschaftswende als um ein anderes Thema?

Merz, der Wirtschaftskanzler? Nicht ganz

Eine große Debatte hat die am Dienstagmittag verbreitete Meldung von Linnemanns Verzicht nicht ausgelöst. Nicht einmal die Mittelstandsunion schrie empört auf. Die Unionsleute, die sich öffentlich äußerten, ergingen sich im Wesentlichen in Respektsbekundungen. Dass Linnemann sich weiter der Partei widme, sei ihm hoch anzurechnen, ist der Tenor solcher Äußerungen. Redet man jedoch mit Christdemokraten unter der Voraussetzung, sie nicht zu zitieren, so entsteht ein komplexeres Bild.

Friedrich Merz ist der Chef auf CDU-Seiten bei den Koalitionsverhandlungen. Das würde der loyale Linnemann, dem jemand sogar nachsagt, so loyal zu sein, dass er seine Wünsche nicht genug durchsetzt, nie infrage stellen. Linnemann war es schließlich, der Merz im Jahr 2018 auf dem Hamburger Parteitag quer durch den Saal hinterherief, er solle nicht aufgeben, nachdem Merz im Kampf um die Merkel-Nachfolge im Parteivorsitz Annegret Kramp-Karrenbauer unterlegen war. „Lieber Friedrich, bleib bitte bei uns!“, war Linnemanns verzweifelt klingende Aufforderung. Linnemann zu den Merz-Fans zu zählen, war spätestens seit diesem Auftritt selbstverständlich.

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Merz zieht zwar einen wesentlichen Teil seiner Reputation daraus, ein Mann der Wirtschaft zu sein, sich bei ökonomischen Themen auszukennen und diese ganz oben auf seiner Prioritätenliste zu haben. Schaut man sich allerdings an, wie er seine Regierung zusammensetzt, so scheint es ein noch wichtigeres Thema zu geben. Merz, der zu Beginn seiner politischen Laufbahn Abgeordneter im Europaparlament war, will offenbar mehr noch als ein Wirtschaftskanzler ein Außen- und Europakanzler sein. Schon auf dem Weg zur Bundestagswahl pflegte er die Kontakte vor allem zum französischen Präsidenten Emmanuel Macron und dem polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk so intensiv, dass der Zuschauer sich fragen konnte, ob der Sozialdemokrat Olaf Scholz noch Kanzler ist oder eigentlich schon Merz.

Das Außenministerium wollte Merz bei sich halten

Der 69 Jahre alte Merz erlebte den Europäer Helmut Kohl als Kanzler sowohl in seiner Zeit als Europaabgeordneter als auch noch in seiner ersten Legislaturperiode im Bundestag von 1994 bis 1998. Er dürfte verinnerlicht haben, dass der Erfolg der christdemokratischen Kanzler und der Kanzlerin entscheidend von ihren Erfolgen in Europa geprägt war. Konrad Adenauer führte die Bundesrepublik in ein zusammenwachsendes Europa, Kohl schuf den Euro, Merkel verhinderte, dass die Eurozone zerbricht. Merz steht jetzt vor der Riesenaufgabe, die oft uneinige Europäische Union zu einer Kraft zu machen, die gegen die großen Mächte Amerika, China und Russland besteht. Da kann das Wirtschaftsministerium schon mal unter die Räder kommen.

Merz wollte und will jedenfalls das Auswärtige Amt mit einem Christdemokraten besetzen. Zum ersten Mal seit 1966 wieder. Der Eindruck müsste schon sehr täuschen, wenn er diese Entscheidung in der Absicht getroffen hätte, einen Minister am Werderschen Markt zu installieren, der den Kanzler mit brillanten Ideen überstrahlt.

Vielmehr dürfte Merz oft genug gesehen haben, wie der bislang in aller Regel vom Koalitionspartner gestellte Außenminister dem Kanzler in die Quere kam oder schlicht auf die Nerven ging. Letztes Beispiel ist die selbstbewusste grüne Außenministerin Annalena Baerbock, deren Auftritte im Kanzleramt keineswegs für durchgängige Begeisterung sorgten. Merz will nun mit dem geplanten nationalen Sicherheitsrat aus dem Kanzleramt international schalten und walten können, ohne vom Auswärtigen Amt dabei gestört zu werden.

Der in Koalitionsverhandlungen erfahrene SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil dürfte den Wunsch erkannt und zu seinem Vorteil genutzt haben. Da Merz auch noch ein Digitalministerium haben wollte, soll – so wird es dargestellt – Klingbeil den Wunsch seiner Partei, das Finanz- und das Arbeitsministerium zu erhalten, leichter durchgesetzt haben können. Zudem werden dem Wirtschaftsministerium bisherige Kompetenzen genommen, übrig bleibt vor allem die Energiepolitik. Möglich, dass Linnemann keine Lust hatte, ein gehobener Energieminister zu werden.

Die Unzufriedenheit liegt nicht an Linnemanns Schicksal

In den Koalitionsverhandlungen hatte der Generalsekretär die CDU-Truppe in der Arbeitsgruppe Arbeit und Soziales geleitet. Jetzt wird allenthalben erzählt, Linnemann wäre gerne Arbeitsminister geworden. Eines der wesentlichen Themen wäre dann die Reform des bisherigen Bürgergeldes gewesen, die Linnemann und die CDU stets als ganz wichtiges Vorhaben dargestellt hatten.

Carsten Linnemann im April in Berlin
Carsten Linnemann im April in BerlinEPA

Merz muss allerdings nicht einmal schwach verhandelt haben, sodass die SPD das Haus zugesprochen bekam. Seit Jahrzehnten stellen die Sozialdemokraten den Arbeitsminister, wenn sie regieren. Nur von 2009 bis 2013, als Angela Merkel mit der FDP regierte, führte die CDU-Politikerin Ursula von der Leyen das Haus. Ob Linnemann bei einem stärkeren Einsatz von Merz Chancen gehabt hätte, Arbeitsminister zu werden, ist fraglich. Es gehört aber auch in die Kategorie vergossene Milch.

Dass der Wirtschaftsflügel in der Union zur Causa Linnemann öffentlich weitgehend schweigt, heißt nicht, dass es keine Unzufriedenheit gibt. Die wird allerdings mehr am Verlauf der Koalitionsverhandlungen und deren Ergebnis in Wirtschafts- und Finanzfragen deutlich als an Linnemanns Schicksal.

Jetzt hat Linnemann auf dem Sprungbrett Zeit

Ein Christdemokrat erinnert sich wehmütig an Sozialdemokraten wie Gerhard Schröder, Franz Müntefering oder Peer Steinbrück. Ihnen wird die Kraft zugeschrieben, echte Reformen in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik anzugehen, auch zusammen mit der CDU. Die Agenda-Politik des Kanzlers Schröder oder die Einführung der Rente mit 67 durch Franz Müntefering zusammen mit Angela Merkel werden in diesen Tagen als leuchtende Beispiele genannt. Solche Reformer fänden sich heute nicht mehr unter den Sozialdemokraten, mit denen man nun regieren wolle, klagt einer in der CDU.

Nun bleibt Carsten Linnemann also Generalsekretär. Einerseits loben viele Parteifreunde, er habe da einen guten Job gemacht. Andererseits hat Linnemann im Wahlkampf stets den Eindruck erweckt, dass ein Ergebnis für die CDU unter 30 Prozent auch etwas über seine Arbeit aussagen würde. Nun liegt das Ergebnis deutlich darunter – und Linnemann bleibt die Nummer zwei in der CDU nach dem Vorsitzenden Merz.

Der kann ihn in der Funktion gut gebrauchen. Linnemann genießt Respekt in der Partei, und im nächsten Jahr finden fünf Landtagswahlen statt, zwei davon in Ostdeutschland, wo die Lage der CDU in der Konkurrenz zur AfD besonders schwierig ist. Es gibt die Befürchtung, wenn im Sommer in Sachsen-Anhalt gewählt werde, könne erstmals ein AfD-Politiker Ministerpräsident werden.

Die meisten CDU-Generalsekretäre kennt heute kaum mehr jemand. Einige wenige sind als prägende Figuren in Erinnerung geblieben, vor allem der legendäre Heiner Geißler. Das Ende von dessen Amtszeit liegt allerdings schon 36 Jahre zurück. Immerhin kann der Posten des Generalsekretärs ein Sprungbrett sein. Die eine – Merkel – wurde CDU-Vorsitzende und Kanzlerin. Ein anderer – Volker Kauder – Vorsitzender der Unionsfraktion. Carsten Linnemann wird jetzt etwas mehr Zeit haben, darüber nachzudenken, was er gerne würde. Außer Arbeitsminister.