Haben sich die Vorzeichen geändert?

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In Woche eins der Post-Assad-Ära scheint am Oberlandesgericht Frankfurt am Main im seit bald drei Jahren währenden Prozess wegen Foltervorwürfen gegen einen syrischen Arzt business as usual angesagt zu sein. Alle Verfahrensbeteiligten machen den Eindruck, als spiele es keine Rolle, dass sich am vergangenen Sonntag das Leben der Syrer grundlegend verändert hat.

Weder der Senat unter dem Vorsitz von Christoph Koller äußert sich zu den Ereignissen, noch Staatsanwältin Anna Zabeck. Auch der Angeklagte Alaa M. oder seine Verteidiger haben kein Mitteilungsbedürfnis. An diesem Donnerstag wird an Prozesstag 164 ein Arzt vernommen, der in den Jahren 2011 bis 2013 in unterschiedlichen Militärkrankenhäusern gearbeitet hat. Dann verließ er seine Heimat, da er ein Gegner Assads war. Mittlerweile ist er in Deutschland eingebürgert.

Erst druckst er herum, dann fasst er sich ein Herz

Bis zur ersten Pause gestaltet sich die Aussage zäh, mit vielen Nachfragen der Richter. Manchmal wird auch der Übersetzer für die arabische Sprache hinzugezogen, obwohl der Zeuge gut Deutsch spricht. Als alle Verfahrensbeteiligten um 11.30 Uhr in den Saal zurückkehren, wiedereröffnet Richter Koller die Sitzung mit der Feststellung, er habe den Zeugen gerade in der Gerichtscafeteria getroffen. Dort habe dieser Worte an ihn gerichtet, die er bitte wiederholen solle. Der 40 Jahre alte Mann kommt dem nach und sagt: „Ich kann das erste Mal frei sprechen, weil Assad weg ist.“

Bei seiner weiteren Befragung stellt sich dann aber heraus, dass er gar nicht so frei spricht, immer wieder herumdruckst. Nach Rücksprache mit seiner Zeugenbeiständin fasst er sich dann ein Herz. Im Sommer sei er aus dem Umfeld des Angeklagten kontaktiert worden. Dessen Familie und seine kennen sich weitläufig. Ihm werde fälschlicherweise vorgeworfen, dass er zur Inhaftierung von M. beigetragen habe, und er habe Angst vor Vergeltung.

Der 5. Senat des OLG Frankfurt verhandelt das Verfahren gegen den syrischen Arzt Alaa M., der in seiner Heimat Patienten gefoltert haben soll.
Der 5. Senat des OLG Frankfurt verhandelt das Verfahren gegen den syrischen Arzt Alaa M., der in seiner Heimat Patienten gefoltert haben soll.Marcus Kaufhold

Man könnte meinen, für die Aussage vor einem deutschen Gericht sollten die Machtverhältnisse in Syrien unerheblich sein. Doch weit gefehlt. Immer wieder musste sich der Senat mit der Problematik auseinandersetzen: Wie überzeugt man einen Menschen, der Angst um sich und seine Familie hat, umfassend und wahrheitsgemäß auszusagen?

Viele Zeugen berichteten dem Senat, dass Verwandte in Syrien von Geheimdienstmitarbeitern aufgesucht wurden. Deren Aufgabe: Einschüchterung, Bedrohung. Auch die Zeugen selbst, allesamt in europäischen Ländern zu Hause, wurden zu ihrem Schutz nicht selten von Beamten des BKA ins Gericht begleitet. Diese Option bietet der Vorsitzende nun auch dem aktuellen Zeugen an. Es sieht so aus, als ließen sich die alten Zeiten nicht so schnell überwinden.

Der Senat hält sich bedeckt

Auf Nachfrage der F.A.Z., ob sich der Umbruch in Syrien auf den sich wohl eher im Schlussdrittel befindlichen Prozess auswirken könnte, lässt der Vorsitzende Richter Koller mitteilen, es sei sehr gut möglich, dass sich durch die aktuelle politische Entwicklung in Syrien „Änderungen in Bezug auf die Bewertung von momentanen Bedrohungslagen ergeben“. Der Senat könne keine Auskunft erteilen, ob die erneute Vernehmung bereits vernommener Zeugen erforderlich sein wird.

Am Donnerstag berichtet der Zeuge, der seit 2017 in Deutschland tätig ist, von seiner Zeit in der Urologie des Militärkrankenhauses Mezzeh, auch bekannt unter der Nummer 601, in Damaskus. Dort traf er im Jahr 2012 auf den Angeklagten. M. arbeitete als Assistenzarzt in der Orthopädie und Unfallchirurgie, der Zeuge in der Urologie, so dass sie sich am ehesten in der Notfallambulanz begegneten.

Dort sei es immer wieder zu „Aktionen“ gekommen, an denen auch M. beteiligt gewesen sei. Festgenommene Verletzte seien in Gruppen von 30, 40 Mann eingeliefert worden und von Pflegern, Ärzten, Sicherheitsleuten gemeinsam geschlagen worden. Es sei chaotisch gewesen, sagt der Zeuge, „laut und viel Adrenalin“. Was M. genau gemacht habe, könne er daher nicht sagen. „Hat er misshandelt?“, fragt der Richter. „Ja“, sagt der Zeuge.

Totenscheine mit festgelegter Todesursache

Zu den allgemeinen Umständen in Mezzeh gibt der Zeuge an, dass er Totenscheine für Menschen ausstellen musste, die in Gefängnissen verstorben waren und dann ins Krankenhaus gebracht wurden. „Sie waren nur noch Haut und Knochen“, sagt er. Er habe jedoch die Anordnung gehabt, als Todesursache grundsätzlich Herzstillstand anzugeben. An konkrete Folterspuren an den Leichen kann er sich nicht erinnern. Kurz darauf werden im Gerichtssaal Fotos in Augenschein genommen, die dem Zeugen zufolge auf dem Krankenhausgelände von 601 aufgenommen wurden. Zu sehen sind unbekleidete männliche Körper, die auf staubigem Boden liegen.

Der Zeuge sagt zudem aus, mit den Transportern seien neben den Leichnamen auch Sterbende auf das Krankenhausgelände gebracht worden, die er als Arzt nicht hätte versorgen dürfen. Er berichtet von falsch gelegten Thorax-Drainagen, um inhaftierte Oppositionelle zu quälen. Über einen etwa 14 Jahre alten Jugendlichen, den er wegen einer Kleinigkeit behandelt habe, und der direkt wieder entlassen werden sollte, habe er kurz darauf gehört, dieser befinde sich „schon im Kühlschrank“.

Die Befragung des Zeugen wird in der kommenden Woche fortgesetzt.