Wir essen uns zu Tode

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Eigentlich war es noch nie so leicht wie heute, sich gesund zu ernähren. Selbst beim Discounter gibt es frisches Gemüse, Lebensmittel-Ampeln zeigen den Nährwert von Produkten an, und jeder kann mit Apps seine Kalorien zählen. Es war aber auch noch nie so schwer. An jeder Ecke steht eine Dönerbude, Tiefkühlpizzas sind günstiger als die Zutaten für einen frischen Salat, und abends bringt der Lieferservice gebratene Nudeln und Burger bis an die Haustür.

Da ist es fast überraschend, dass nur die Hälfte der Deutschen zu dick ist. Dafür ist jeder Vierte gefährlich fettleibig, und auch jedes sechste Kind wiegt zu viel. 2050 könnte es ein Drittel aller Kinder sein. Die Zahl der zuckerkranken Kinder, die vor ihrem 19. Geburtstag an „Altersdiabetes“ erkranken, hat sich seit 2002 verdreifacht. Auch später ist Adipositas mitverantwortlich für Herzleiden, Bluthochdruck, Schlaganfälle und Krebs. Das kommt die Gesellschaft teuer zu stehen. Nach einer Studie der Universität Hamburg belaufen sich die Kosten durch Adipositas auf 63 Milliarden Euro – pro Jahr.

Immer mehr Menschen sind aber nicht nur zu dick, sondern gleichzeitig mangelernährt. Zahlen aus Deutschland gibt es dazu nicht, aber in den USA leidet rund die Hälfte der Menschen mit Adipositas an einem Nährstoffmangel. Das liegt in den Augen vieler Mediziner und Ernährungsexperten nicht nur am Zucker, sondern auch am übermäßigen Verzehr hochverarbeiteter oder „ultraprozessierter“ Lebensmittel.

Zucker, Farbstoff, Stabilisatoren

Nicht nur Kartoffelchips, Tiefkühlpizza, Eiscreme und gesüßte Limonaden oder Eistees gehören dazu, sondern auch Wurst, Frühstücksflocken, Säfte und Fruchtjoghurts. Hochverarbeitete Lebensmittel machten in Deutschland schon Anfang der 2000er-Jahre die Hälfte aller täglichen Kalorien aus.

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In gigantischen Maschinen produziert die Industrie Lebensmittel, die man selbst so nie herstellen könnte. Rohstoffe werden erst in ihre Bestandteile zerlegt und dann neu zusammengemischt. Sie werden hocherhitzt, sprühgetrocknet, aromatisiert. Kartoffelchips werden „hyperschmackhaft“ gemacht, indem ihnen gesättigte Fettsäuren, Konservierungsmittel, Aromen, Salz und Zucker beigemischt werden. In Laboren kann ausgeklügelt werden, welcher Chemiecocktail für uns nach „Pumpkin Spice“ riecht und wie die Chipstüte rascheln muss – damit man möglichst viel isst.

Selbst die Textur der Lebensmittel wird so gestaltet, dass man kaum noch kauen muss. Naturjoghurt mit frischen Erdbeeren ist eine Vitaminbombe. Industriell hergestellter Erdbeerjoghurt enthält Zucker, Farbstoffe, Stabilisatoren, Säuerungsmittel, Aromastoffe. Und bloß Spuren von Erdbeeren.

Auslage einer Metzgerei in Offenbach: Auch Wurst gehört zu den hochverarbeiteten Lebensmitteln.
Auslage einer Metzgerei in Offenbach: Auch Wurst gehört zu den hochverarbeiteten Lebensmitteln.Carlotta Steinkamp

Wie genau hochprozessierte Lebensmittel auf den Körper wirken, verstehen Wissenschaftler erst langsam. Studien legen aber nahe, dass Chips oder hochverarbeitete Wurst chronische Entzündungen hervorrufen können. Auch stören sie offenbar den Stoffwechsel, die Körperzellen reagieren dann nicht mehr richtig auf das Hormon Insulin, das dafür sorgt, dass Zucker aus dem Blut aufgenommen werden kann.

Wer viel Hochprozessiertes zu sich nimmt, hat nach Studien ein höheres Risiko für Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Schlaganfälle oder Darmkrebs – und leidet eher an Schlafstörungen und Depressionen. Im Alter können hochprozessierte Lebensmittel womöglich sogar den geistigen Verfall beschleunigen und die Demenzgefahr steigern.

Manche Forscher glauben zudem, dass hochprozessierte Lebensmittel körpereigene Signalwege schwächen, die für das Sättigungsgefühl sorgen. So wird nach einer Fertiglasagne weniger vom Peptid YY ausgeschüttet, das satt macht.

Wer täglich fettige und süße Snacks isst, will immer mehr

Nicht nur überzuckerte, auch ultraprozessierte Lebensmittel verleiten uns also dazu, mehr zu essen, als wir sollten. Für eine Studie aßen 20 Freiwillige zwei Wochen lang frisches Essen, dann zwei Wochen fast nur Hochverarbeitetes wie Blaubeermuffins oder Dosenravioli. Die Mahlzeiten lieferten jeweils dieselben Kalorien – dennoch waren die Teilnehmer unter der hochprozessierten Diät noch hungrig und aßen täglich rund 500 Kalorien mehr.

Wenn die Studienteilnehmer im Gehirnscanner lagen und dabei einen Milchshake schlürften, waren Hirnareale besonders aktiv, die als Teil des Belohnungssystems unser Verhalten steuern und bei der Entstehung von Sucht entscheidend sind. Diese Nervenzellen feuern auch, wenn wir uns durch soziale Medien klicken, shoppen oder Drogen nehmen. Wenn man täglich fettige und süße Snacks isst, verändert sich das Belohnungssystem, wie eine Studie zeigte: Man will immer mehr.

Viele Länder haben die Gefahren, die von überzuckerten und hochprozessierten Lebensmitteln ausgehen, längst erkannt – und reagiert. In Großbritannien schmeckt eine Fanta weniger süß als in Deutschland, weil dort seit 2018, wie in mehr als fünfzig anderen Ländern, eine Zuckersteuer auf süße Getränke gilt. Limos oder Eistees enthalten nun 44 Prozent weniger Zucker, weil die Unternehmen die Steuer umgehen wollen.

Cola und Orangensaft: In mehr als 50 Ländern gilt eine Zuckersteuer auf süße Getränke.
Cola und Orangensaft: In mehr als 50 Ländern gilt eine Zuckersteuer auf süße Getränke.dpa

Britische Kinder nehmen pro Tag durchschnittlich fünf Gramm weniger Zucker zu sich als davor; Forscher berichten, die Steuer habe Tausende Adipositas-Fälle verhindert. Auch in der amerikanischen Stadt Philadelphia ist der Durchschnitts-BMI drei Jahre nach der Einführung einer Zuckersteuer leicht gesunken.

Ein anderes Instrument nutzt Dänemark: Hier sind seit 2003 Transfette verboten, also industriell gehärtete Fette, die in Fast Food oder Fertigbackwaren stecken und die Blutgefäße schädigen. Das hat zu einem signifikanten Rückgang der Todesfälle durch koronare Herzkrankheiten geführt. In Mexiko hat der Versuch einer „Junk Food“-Steuer 2014 immerhin dazu geführt, dass fünf Prozent weniger hochkalorische Snacks wie Chips verkauft wurden. Seit Kurzem darf in mexikanischen Schulen kein Junk Food mehr angeboten werden.

Deutschland ist von solchen Maßnahmen weit entfernt, hier setzt man auf Freiwilligkeit statt auf Gesetze. 2018 hat das Bundesernährungsministerium unter Julia Klöckner von der CDU mit der Lebensmittelindustrie eine „Nationale Reduktions- und Innovationsstrategie“ für weniger Zucker, Fett und Salz in Fertigprodukten beschlossen. Darin wurde unter anderem vereinbart, den Zuckergehalt von Softdrinks bis 2025 um 15 Prozent zu senken. Laut dem Max-Rubner-Institut, das den Erfolg der Strategie überwacht, reduzierte die Industrie Zucker, Fett und Salz in einigen Produktgruppen zwar anfangs tatsächlich, ließ dann aber schnell wieder nach.

Eder: Die Politik ist bei Regulierungen scheu geworden

So ist der Zuckergehalt in Softdrinks nach einer Studie der Deutschen Allianz Nichtübertragbare Krankheiten, der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Technischen Universität München zwischen 2018 und 2023 nur um zwei Prozent gesunken. Der Lebensmittelverband Deutschland verweist hingegen auf „erhebliche Erfolge“ bei vielen Produkten. Auch sei die Reduktion von Zucker, Fett und Salz oft „technologisch schwierig und nicht grenzenlos umsetzbar“, sagte Hauptgeschäftsführer Christoph Minhoff der F.A.S. Schließlich müssten die Produkte schmecken und sicher sein.

Im vergangenen Juli forderten neun von sechzehn Bundesländern die Bundesregierung auf, eine Steuer auf besonders zuckerhaltige Getränke wie in Großbritannien zu prüfen. In der Ampel scheiterte das vor allem an der FDP, doch selbst vehemente Befürworter einer „Zuckersteuer“ argumentieren mittlerweile auffallend leiser. „Die Politik ist sehr scheu geworden, was Regulierungen anbelangt“, gibt die grüne Umweltministerin Karin Eder aus Rheinland-Pfalz zu, die auch für den Verbraucherschutz zuständig ist. Eine isolierte Zuckersteuer, glaubt sie, würde die Menschen nur noch mehr gegen die Politik aufbringen, von der sie sich ohnehin bevormundet fühlten. „Wir brauchen eine Reform des gesamten Mehrwertsteuer- und des Ernährungssystems“, sagt Eder. Gesunde Lebensmittel müssten günstiger werden – und ungesunde „perspektivisch“ teurer.

Obst und Gemüse vom Wochenmarkt: Tiefkühlpizzas sind oft günstiger als die Zutaten für eine frische Mahlzeit.
Obst und Gemüse vom Wochenmarkt: Tiefkühlpizzas sind oft günstiger als die Zutaten für eine frische Mahlzeit.Felix Kaspar Rosic

Auch der Bundestagsabgeordnete Janosch Dahmen von den Grünen sieht höhere Steuern auf einzelne Produkte kritisch. Er würde lieber Unternehmen danach besteuern, wie viel Zucker, Salz oder Zusatzstoffe sie insgesamt verarbeiten. Das, glaubt er, würde in der ganzen Industrie den Anreiz erhöhen, auf schädliche Inhaltsstoffe zu verzichten. Die Ernährungsindustrie sei mit ihren Produkten „substanziell“ für die hohe Krankheitslast in Deutschland verantwortlich. Deshalb müsse sie stärker zur Verantwortung gezogen werden, so Dahmen.

Der Lebensmittelverband lehnt das ab. Steuern auf einzelne Lebensmittel oder Nährstoffe seien „ineffektiv, wettbewerbsverzerrend und sozial ungerecht“, sagte Hauptgeschäftsführer Minhoff. Außerdem widersprächen sie dem „Prinzip des mündigen Bürgers“.

Die Berliner Verbraucherschutzsenatorin Felor Badenberg von der CDU warnt ebenfalls davor, die Industrie „zu sehr zu belasten“. Sie schlägt einen Deal vor: Die Politik entlastet die Unternehmen bei der Bürokratie, dafür sparen diese beim Zucker, um eine höhere Besteuerung zu vermeiden. „Wenn man Bürokratieabbau und Lenkungspolitik so verknüpfen würde, wäre die Akzeptanz viel größer, als wenn man jetzt wieder mit der nächsten Besteuerungsidee für einzelne Lebensmittel um die Ecke kommt.“

Dahmen: Wir überschätzen die Wirksamkeit von Verhaltensprävention

Viele Gesundheitspolitiker halten noch etwas anderes für überfällig: ein Verbot der „Quengelware“ an den Kassen – und ein Werbeverbot für ungesunde Lebensmittel. Denn gerade Kinder sind eine leichte Beute für die Industrie. Im Schnitt sehen sie in Deutschland jeden Tag 15 Werbespots für ungesunde Lebensmittel, leicht verpackt mit Comicfiguren und lustigen Liedchen. Wie sich Werbeverbote auswirken würden, lässt sich nur schwer beziffern. Aber es gibt Indizien.

Im kanadischen Bundesstaat Quebec gilt seit 1980 ein striktes Verbot von Süßigkeitenwerbung, die sich an Kinder unter 13 Jahren richtet. Nach Studien geben französischsprachige Familien seither 13 Prozent weniger Geld für Schokolade, Happy Meals oder Puddings aus. Auch in England gilt von Oktober an ein Werbeverbot – nicht nur für Süßigkeiten, sondern für alle als ungesund eingestuften Lebensmittel. Im Fernsehen dürfen dann vor 21 Uhr keine Spots mehr für Junkfood oder süße Joghurts gezeigt werden, aus dem Internet soll die Werbung ganz verschwinden. Die Regierung glaubt, dass so 20.000 Kinder vor Adipositas bewahrt werden können. Ein solches Werbeverbot hatte auch der scheidende Bundesernährungsminister Cem Özdemir von den Grünen vergeblich vorgeschlagen.

In Deutschland, wo Lenkungspolitik von vielen gleich als Eingriff in die Privatsphäre begriffen wird, setzt man eben lieber auf den „mündigen Bürger“ – und auf eine bessere Ernährungsbildung. Viele Bundesländer versuchen mit Projekten in Schulen und Kitas schon den Jüngsten beizubringen, wie man sich gesund ernährt. Das sei wichtig, glaubt auch der Grüne Dahmen – aber nicht genug.

Dahmen sagt, in keinem westeuropäischen Land werde die Wirksamkeit von Verhaltensprävention so überschätzt wie hierzulande. Dabei sei das naiv: den Menschen gut zuzureden und darauf zu hoffen, dass sie von selbst geläutert werden. So werde es mit der Ernährungspolitik aber auch in der großen Koalition weitergehen, fürchten Gesundheitspolitiker: Viel Betroffenheit, wenig Druck. Schon gar nicht auf die Industrie.