Angeblich trinken Ostfriesen jährlich 300 Liter Tee pro Kopf – doch der vermeintliche Weltrekord wirft Fragen auf. Statistisch sind die Zahl und der “Meistertitel” kaum haltbar.
2016 wurde die Ostfriesische Teekultur ins immaterielle Welterbe der UNESCO aufgenommen, sicher zur Freude vieler Ostfriesen. 2021 bescheinigte das Deutsche Rekordinstitut der Nordsee-Region dann, die Ostfriesen seien Weltmeister im Teetrinken. Sie würden im Schnitt 300 Liter Schwarz- oder Grüntee pro Jahr trinken, mehr als die Menschen in Libyen und der Türkei, die im Ranking gleich dahinterkämen. Das regionale Tourismusmarketing hat den Weltmeistertitel dankbar aufgegriffen. Doch Recherchen wecken Zweifel, ob er wirklich berechtigt ist.
Der Weltmeistertitel ist aus mehreren Gründen fragwürdig. Denn er kommt nur zustande, weil Ostfriesland, eine kleine Region, verglichen wird mit großen Staaten wie der Türkei. Das ist statistische Rosinenpickerei: Man greift sich ein Gebiet heraus, von dem man weiß, dass dort überdurchschnittlich viel Tee getrunken wird, und vergleicht es mit dem Durchschnitt anderer Länder.
Doch in diesen anderen Ländern gibt es ebenfalls regionale Unterschiede. An der türkischen Schwarzmeerküste wird Tee angebaut und entsprechend viel getrunken. Selbst wenn der Konsum dort nur zehn Prozent höher liegen würde als im Rest der Türkei, könnten die Schwarzmeerküstenbewohner den Ostfriesen den Weltmeistertitel streitig machen.
Wie der Teekonsum berechnet wird
Der Teeverbrauch wird nicht durch Umfragen ermittelt, sondern durch eine im Grunde einfache Rechnung: Wie viel Kilogramm Tee werden in einem Land insgesamt konsumiert?
Das wird in Liter umgerechnet – ein Kilogramm Teepulver entspricht ungefähr 90 Litern Heißgetränk. Diese Menge wird dann durch die Zahl der Bewohner geteilt. Im Fall von Ostfriesland kommt man so auf 140 Millionen Liter Tee, geteilt durch etwa 470.000 Einwohner. Das macht ziemlich genau 300 Liter pro Kopf und Jahr.
Statistische Falle beim „Pro-Kopf“-Verbrauch
Die Rechnung klingt plausibel, birgt aber einige Fallen. Denn Ostfriesland hat viele Urlauber im Verhältnis zur Einwohnerzahl. In Ostfriesland wohnen nicht nur knapp 470.000 Menschen, es kommen zusätzlich pro Tag 100.000 Touristen hinzu.
Die trinken aber ebenfalls Tee, das gehört für viele schließlich dazu. Oder sie kaufen den berühmten Ostfriesentee als Mitbringsel für sich oder andere und nehmen ihn mit heim. Diese Urlauber treiben also den Konsum in die Höhe, werden aber in der Rechnung nicht berücksichtigt.
“Ostfriesischer“ Teekonsum auch außerhalb Ostfrieslands
Zweifel gibt es auch an der Gesamtmenge an Tee, die angeblich in Ostfriesland gekauft wird. Ein großer Teil des Absatzes erfolgt über die Ostfriesischen Teehandelshäuser wie Bünting oder die Ostfriesische Tee Gesellschaft. Die verkaufen ihren Tee aber auch in Geschäften jenseits der ostfriesischen Grenzen und über den Onlinehandel in der gesamten Bundesrepublik.
Bünting verkauft nach eigenen Angaben mehr als ein Drittel seines Tees an Endkunden außerhalb Ostfrieslands. Die Ostfriesische Tee Gesellschaft konnte auf Nachfrage keine Angaben machen, welcher Anteil wirklich in Ostfriesland verkauft wird.
Intransparente Berechnung des Teekonsums
Werden all diese Fakten nicht berücksichtigt, bedeutet das: In Ostfriesland wird weniger Tee getrunken als offiziell ausgewiesen, und das auch noch von weitaus mehr Menschen als nur den Bewohnern. Auf diese Weise würde der Teekonsum künstlich in die Höhe geschraubt.
Die stolze Zahl von 300 Litern pro Kopf hat der Deutsche Teeverband errechnet – hat er diese statistischen Fehlerquellen berücksichtigt? Auf Rückfrage des SWR versichert er zwar, dass die Zahlen “auf einer durchdachten und langjährig etablierten Methodik beruhen”, wollte aber nicht konkreter werden. “Wir bitten um Ihr Verständnis, dass wir interne Berechnungsdetails nicht weitergeben.”
Das ist ungewöhnlich: Der Teeverband verkündet einen Rekordwert für Ostfriesland, verrät aber nicht, wie er zustande kommt. Das widerspricht den Grundlagen jeder Wissenschaft und jeder Statistik. Das allein wäre schon ein Grund, die Zahl und den damit verbundenen Weltrekord nicht ernst zu nehmen, geschweige denn zu verbreiten.
Die Rolle des Rekord-Instituts
Das Rekord-Institut für Deutschland hat sich davon aber nicht abhalten lassen und Ostfriesland 202 offiziell den Weltrekord im Teetrinken bestätigt. Auf seinen Webseiten erweckt es den Eindruck, es hätte die Angaben geprüft. Auch in einer Mail legt es Wert darauf, als “Prüfinstanz“ genannt zu werden. Doch auf Nachfrage des ARD-Podcasts “1000 Antworten“, ob es die Zahlen des Teeverbandes wirklich geprüft hat, erklärt das Institut: “Leider haben wir keine Informationen zur Methodik der damaligen Untersuchung.“
Fazit: Die einen sagen nichts, die anderen wissen nichts. Seriös geht anders. So wurde jahrelang mit einer sehr wahrscheinlich völlig übertriebenen Zahl Marketing gemacht. Das zeigt schön ein vom niedersächsischen Wirtschaftsministerium mitfinanzierter “Praxisleitfaden nachhaltiger Kulturtourismus“, in dem Tipps gegeben werden, wie die Ostfriesische Teekultur inklusive Weltmeistertitel “in Wert gesetzt“ werden kann. “Die Teekultur nimmt im Regionalmarketing einen zentralen Stellenwert ein“, heißt es dort.