Manch einer in der Bundesrepublik hatte die Ukraine im Februar 2022 schon für besiegt erklärt. Mehr als drei Jahre später halten die Ukrainer den russischen Angriffen immer noch stand. Sie legen eine Resilienz an den Tag, die ihnen in Moskau und vielen europäischen Hauptstädten wohl so nicht zugetraut worden war. Angesichts des andauernden ukrainischen Abwehrkampfes stellt sich auch in Deutschland die Frage: Wie wehrfähig sind wir eigentlich? Damit ist nur nicht nur die Kriegstüchtigkeit der Bundeswehr gemeint oder wie gut etwa Krankenhäuser auf den Ernstfall vorbereitet sind. Es geht auch um die Gesellschaft. Die Deutschen können viel von den Ukrainern lernen.
In den ersten Kriegstagen meldeten sich Tausende Ukrainer freiwillig für die Verteidigung ihrer Städte und ihres Landes. Es waren so viele, dass es nicht einmal genug Waffen für alle gab. Freiwillige bauten Barrikaden und Sprengsätze. Heute meldet sich zwar kaum noch jemand von sich aus für den Einsatz an der Front, einige Männer verstecken sich gar vor der Armee. Dennoch ist die Unterstützung im Hinterland weiter groß. Menschen sammeln in ihrer Freizeit Spenden für die Armee, bauen Drohnen, evakuieren Orte in den Frontgebieten. Derweil ist in den Feuilletons deutscher Zeitungen eine Debatte darüber entbrannt, ob man überhaupt bereit ist, für Deutschland zu kämpfen.
Sie kennen ihren Feind
Dass die Ukrainer durchhalten, hat vor allem einen Grund: Sie wollen nicht noch einmal unter das Joch Moskaus geraten. Sie kennen ihren Gegner und dessen gewaltvolle Geschichte. Fast 70 Jahre lang war die Ukraine Teil des Sowjetreichs. Wie in den anderen Republiken betrieben die Machthaber in Moskau eine rigorose Russifizierungspolitik. Brutal gingen die Bolschewiki gegen ukrainische Intellektuelle vor, erschossen oder deportierten sie nach Sibirien. Millionen Menschen kamen während der Hungersnot Anfang der Dreißigerjahre ums Leben. Auf Ukrainisch heißt sie Holodomor, „Tötung durch Hunger“.
Auch heute wüten die russischen Besatzer in den von ihnen kontrollierten Gebieten. Wer verdächtigt wird, Sympathien für Kiew zu hegen, findet sich schnell in einem der vielen Foltergefängnisse wieder. Wer sich weigert, die russische Staatsbürgerschaft anzunehmen, findet schwieriger Arbeit, hat schlechteren Zugang zu medizinischer Versorgung und Bildung. Zivilisten werden vergewaltigt oder wahllos erschossen.
In den von der Regierung kontrollierten Gebieten der Ukraine hingegen ist vieles möglich, was in Putins Russland heute undenkbar scheint. Es gibt freie Medien, es gibt politische Konkurrenz. Man kann Selenskyj kritisieren, ohne Angst zu haben, dafür im Gefängnis zu landen. Überall im Land gibt es an jedem Wochenende Demonstrationen für die Freilassung von Kriegsgefangenen. Dabei schwingt auch der Vorwurf mit: Die Regierung tut nicht genug für sie. Die Ukraine mag keine perfekte Demokratie sein, zumal unter den Bedingungen des Kriegsrechts, das etwa Wahlen ausschließt. Aber man fühlt sich Europa definitiv näher als dem großen Nachbarn.
Leben im Kriegsalltag
Auch im Kriegsalltag überleben die Ukrainer nicht nur. Sie leben. Sie gehen aus, treffen Freunde, studieren, arbeiten, gründen Familien und Geschäfte, treiben Sport. Auch die Kultur lebt. Galerien organisieren neue Ausstellungen. Wenn ein Theaterstück in Kiew Premiere feiert, sind die Tickets meist Wochen im Voraus ausverkauft. In den vergangenen Jahren sind etliche Büchercafés entstanden, in denen die Regale mit Literatur auf Ukrainisch überquellen. Ukrainische Stand-up-Komiker erfreuen sich so großer Beliebtheit wie nie zuvor. Lachen als Ablenkung. Die Schrecken des Krieges kommen schnell genug wieder, wenn die Sirenen des Luftalarms ertönen, auf den Smartphones Bilder von Einschlagsorten aufleuchten oder die Nachricht kommt, dass ein Kollege, Freund, Verwandter im Kampf gefallen ist.
Wenn Menschen außerhalb der Ukraine von den vollen Cafés und Theatern hören, reagieren sie oft mit Unverständnis. Dabei sollen die Berichte auch ein Signal an die Soldaten senden: Schaut her, es gibt ein Leben, das sich zu verteidigen lohnt! Gleichzeitig geht ein Riss durch die ukrainische Gesellschaft. Wer von der Front nach Hause kommt, hat den Krieg anders erlebt als jemand im Hinterland. Beide Seiten zusammenzuführen, ist schon jetzt nicht einfach.
Nach 1156 Tagen sehnen sich die Menschen in der Ukraine nach Frieden. Aber nach keinem unter russischem Diktat. Solange diese Gefahr droht, werden die Ukrainer nicht aufgeben. Und Deutschland sollte die Ukraine nicht aufgeben. Für die neue Bundesregierung heißt das: Sie muss Kiew weiter unterstützen. Würde der Krieg in der Ukraine ein Ende finden, gäbe es ein Land in Europa, das Erfahrungen in modernster Kriegsführung hat, hoch digitalisiert ist, dessen Bürger anpassungsfähig, pragmatisch und kreativ sind. Nicht die schlechtesten Lehrmeister.