Ernst Jünger als Quelle für Thomas Mann

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Am Schluss seines zweibändigen, 1924 erschienenen Romans „Der Zauberberg“ schickt Thomas Mann seinen Protagonisten in einen Krieg, der über vier Jahre hinweg zum Ersten Weltkrieg werden sollte. Allerdings informiert der Verfasser seine Leser nicht darüber, was ihn dazu veranlasst hat, Hans Castorp nach dem siebenjährigen Aufenthalt in einem Da­voser Sanatorium diesen für ihn ver­mutlich tödlichen Weg gehen zu lassen. Einen Vorstoß hat nun Martin Mosebach zu Beginn seiner Stilanalyse des „Zauberbergs“ unternommen, die am 31. Dezember 2024 auf den Seiten Geisteswissenschaften der F.A.Z. erschienen ist. Mosebach fragt „die Literaturwissenschaft“, ob die „letzten Seiten“ in Thomas Manns Roman „mangels eigener Erfahrungen und angesichts mancher Formulierungen nicht nach Lektüre der ‚Stahlgewitter‘ Ernst Jüngers geschrieben sein könnten“.

Die Frage ist in der umfangreichen Literatur zum „Zauberberg“ nie gestellt worden, hat aber ihre Berechtigung und ist, fügt man die Indizien zusammen, positiv zu beantworten. Thomas Mann, so ist zunächst festzuhalten, kannte ­spätere Werke Ernst Jüngers. Oft zitiert wird sein Brief an Agnes E. Meyer vom 14. Dezember 1945, in dem es über die Äußerung eines Bekannten zu Jüngers 1939 erschienener Erzählung „Auf den Marmorklippen“ heißt: „In das Lob der ‚Marmorklippen‘ stimmt er ein, – es ist ein Renommierbuch der 12 Jahre und sein Autor zweifellos ein begabter Mann, der ein viel zu gutes Deutsch schrieb für Hitler-Deutschland. Er ist aber ein Wegbereiter und eiskalter ­Genüßling des Barbarismus und hat noch jetzt, unter der Besetzung, erklärt, es sei lächerlich, zu glauben, daß sein Buch mit irgendwelcher Kritik am nationalsozialistischen Regime etwas zu tun hat.“

Über das krasse Urteil zu Jüngers Haltung gegenüber dem NS-Regime ist viel geschrieben worden (zuletzt instruktiv von Helmuth Kiesel in „Jünger-Debatte“ 4/2021), doch lässt sich aus der Äußerung schließen, dass Thomas Mann auch andere Schriften Jüngers kannte. Zu ihnen gehört „Der Arbeiter“ von 1932, über den Thomas Mann 1933 einen ­Beitrag gelesen hat (so eine Notiz in den Tagebüchern). Auch spätere Aufzeichnungen zeigen, dass er die publizistischen Aktivitäten Jüngers beobachtet hat. Die Tagebücher der Jahre von 1922 bis 1932, in welche die Schlussphase der Arbeit im „Zauberberg“ fällt, sind allerdings vernichtet, während in den erhaltenen ­Aufzeichnungen zwischen 1918 und 1921 von Jünger nicht die Rede ist. Alles andere wäre für diese frühe Zeit auch unwahrscheinlich, da die erste Ausgabe der „Stahlgewitter“ 1920 im Selbstverlag gedruckt wurde und vor allem unter Kriegskameraden des Autors verbreitet war.

Erst 1922 erschien eine Verlagsausgabe bei E. S. Mittler & Sohn, dem führenden preußischen Militärverlag, mit einer Auflage von 5000 Exemplaren, der innerhalb eines Jahres gleich zwei weitere Auflagen mit je 2000 Exemplaren folgten, sodass das Buch weit verbreitet war, als 1924 die fünfte, „völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage“ mit 3000 Exemplaren erschienen ist (so die Angaben in der historisch-kritischen Ausgabe von Kiesel). Die Lektüre einer der Verlagsausgaben könnte damit in die Schlussphase der Arbeit am „Zauberberg“ gefallen sein, da sich Thomas Mann laut eigener Aussage vorgenommen hatte, den Roman mit dem Kriegsbeginn enden zu lassen. Da er den Ersten Weltkrieg weder als Soldat noch als Beobachter vor Ort kennengelernt hatte, benötigte er für das Schlusskapitel Anregungen, die über die journalistische Berichterstattung hinausgehen mussten, sollte der epochale Roman wie geplant mit einem großen Finale enden.

Jüngers ungeschönte Darstellung des Krieges

Bereits die Überschrift des letzten Kapitels „Der Donnerschlag“ deutet auf ein solches Finale hin, auch wenn Thomas Mann noch mehrere Seiten benötigt, bis er von der Beschreibung der Abreise des Protagonisten zunächst in metaphorischer Form auf den Kriegsbeginn zu sprechen kommt: „Seit dem Augenblick seines Erwachens sah Hans Castorp sich in den Trubel und Strudel von wilder Abreise gerissen, den der sprengende Donnerschlag im Tale angerichtet.“ Die mehrfache Begriffsverwendung, die nun folgt, könnte eine Anspielung auf die „Stahlgewitter“ sein. Denn wie Gewitter und Donner zusammengehören, so Kugelhagel und Kanonenschläge, auf die Jünger im ersten Absatz hinweist, um das Vernichtungspotential des Krieges zu charakterisieren: „Ahnten wir, daß fast alle von uns verschlungen werden sollten an Tagen, in denen das dunkle Murren dahinten aufbrandete zu unaufhörlich rollendem Donner? Der eine früher, der andere später?“ (In der Ausgabe von 1922 nach der historisch-kritischen Edition.)

Da Thomas Mann von der Zeitökonomie des Romans her die Entwicklung des Krieges nicht beschreiben konnte, musste er eine literarische Verdichtung vornehmen, für die Jünger im ersten Kapitel der „Stahlgewitter“ bereits das Muster geschaffen hatte. Bedeutende Werke zum Krieg lagen bis zum Abschluss des „Zauberbergs“ nicht vor. Zwar haben Schriftsteller zwischen 1914 und 1920 durchaus Kriegsberichte veröffentlicht – Wilhelm Krull hat diese 2013 in der Anthologie „Krieg von allen Seiten“ zusammengestellt –, doch sind die bekannten autobiographischen und historischen Darstellungen erst Ende der Zwanzigerjahre erschienen, unter ihnen „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque, der sich ebenfalls verdeckt auf Jüngers „Stahlgewitter“ bezog, nachdem er das Buch 1928 in einer Rezension sehr positiv gewürdigt hatte (abgedruckt in der historisch-kritischen Ausgabe).

Zwei Zivilisationsliteraten auf dem sicheren Boden der demokratischen Kultur: Thomas Mann begrüßt seinen Bruder Heinrich bei dessen Ankunft in New York am 13. Oktober 1940.
Zwei Zivilisationsliteraten auf dem sicheren Boden der demokratischen Kultur: Thomas Mann begrüßt seinen Bruder Heinrich bei dessen Ankunft in New York am 13. Oktober 1940.picture-alliance/ dpa

Wie später Remarque, so lieferte Jüngers Buch nicht nur eine ungeschönte Darstellung des Krieges aus der Sicht eines Frontsoldaten; es war ihm auf wenigen Seiten des ersten Kapitels zugleich gelungen, das gesamte Kriegsgeschehen wie in einem Brennglas zu vergegenwärtigen: vom kollektiven Siegeswahn der ankommenden Rekruten bis hin zu den sich unmittelbar anschließenden Leidensgeschichten mit kraftraubenden Märschen in durchnässter Uniform, schweren Verwundungen und sterbenden Kameraden. „Wir“, so heißt es bei Jünger über die anfängliche Euphorie, „hatten Hörsäle, Schulbänke und Werktische verlassen und waren in den kurzen Ausbildungswochen zusammengeschmolzen zu einem großen, begeisterten Körper.“ Gleich beim ersten Einsatz einen Tag später aber kommen die jungen Soldaten mit der Wirklichkeit des Krieges in Berührung: „Mit einem merkwürdig beklommenen Gefühl der Unwirklichkeit starrte ich auf eine blutüberströmte Gestalt.“ Das Resümee des Berichterstatters lautet: „Der Krieg hatte seine Krallen gezeigt und die gemütliche Maske abgeworfen.“

In Manns Roman fehlt jede Kriegsbegeisterung

Die Darstellung im „Zauberberg“ entspricht dem Bericht Jüngers. Von der Ironie der vorausgehenden tausend Seiten ist hier allerdings nichts mehr zu spüren. Vielmehr versucht Thomas Mann, den Bericht Jüngers allenfalls in Details zu überbieten. Bei ihm reisen „dreitausend fiebernde Knaben“, zu denen der Protagonist gehört, ebenfalls „mit der Bahn“ ins Kriegsgebiet nach Frankreich. Auch hier handelt es sich um ein „Regiment Freiwilliger, junges Blut, Studenten zumeist“. Und auch sie waren, wie es ebenfalls wörtlich heißt, „ein Körper“ geworden, „darauf berechnet“, so die Über­bietung, „nach großen Ausfällen noch handeln und siegen“ zu können.

Wie in den „Stahlgewittern“ gibt es auch im „Zauberberg“ bald nach Ankunft der Rekruten im Kriegsgebiet Schwerverletzte und Sterbende: „Sie werden getroffen, sie fallen, mit den Armen fechtend, in die Stirn, in das Herz, ins Gedärm geschossen. Sie liegen, die Gesichter im Kot, und rühren sich nicht mehr.“ Ob der Protagonist den ersten Angriff überlebt, bleibt offen, da der Erzähler das Geschehen an dieser Stelle abschließt: „Und so, im Getümmel, in dem Regen, der Dämmerung, kommt er uns aus den Augen. Lebwohl, Hans Castorp, des Lebens treuherziges Sorgenkind! Deine Geschichte ist aus. Zu Ende haben wir sie erzählt.“ Wie Jünger hatte damit auch der Verfasser des „Zauberbergs“ das Grauen des Krieges auf wenigen Seiten vergegenwärtigt.

In Beifallsgewittern: Ernst Jünger und Oberbürgermeister Walter Wallmann bei der Verleihung des Goethepreises der Stadt Frankfurt an Jünger am 28. August 1982 in der Paulskirche.
In Beifallsgewittern: Ernst Jünger und Oberbürgermeister Walter Wallmann bei der Verleihung des Goethepreises der Stadt Frankfurt an Jünger am 28. August 1982 in der Paulskirche.Barbara Klemm

Dass Thomas Mann die „Stahlgewitter“ nie genannt hat, ist bemerkenswert, hat aber Gründe. Einer ist zweifellos sein Anspruch auf Originalität, ein weiterer die gängige Praxis, Quellen von Zitaten in den Werken nicht zu nennen, wie die Forschung umfassend nachweisen konnte. Besonders ausgeprägt war diese Praxis in dem umfangreichen Buchessay „Betrachtungen eines Unpolitischen“ von 1918, für den Thomas Mann die Arbeit am „Zauberberg“ unterbrochen hatte, um seine positive Haltung zum Krieg zu erläutern. In der „Vorrede“ spricht er nicht nur von einem ausgeprägten „Hilfs- und Anlehnungs­bedürfnis“, sondern auch von einem „unendlichen Zitieren und Anrufen starker Eideshelfer und ‚Autoritäten‘“. Das war, wie der Kommentar von Michael Neumann in der historisch-kritischen Ausgabe von 2002 zeigt, auch beim „Zauberberg“ der Fall.

Im Unterschied zu den „Betrachtungen“ aber fehlt in Thomas Manns Roman jede Kriegsbegeisterung. Sie wird – ebenso wie in den „Stahlgewittern“ – für die neuen Soldaten zwar registriert, durch die Beschreibung ihrer Erfahrungen bald darauf aber destruiert. „Nach kurzem Aufenthalt beim Regiment“, so Jünger gegen Ende des ersten Kapitels, „hatten wir gründlich die Illusionen verloren, mit denen wir ausgezogen waren.“ Thomas Mann beginnt den letzten Absatz des Romans mit der folgenden Anrede an seinen Protagonisten geradezu sarkastisch: „Fahr wohl – du lebest nun oder bleibest! Deine Aussichten sind schlecht; das arge Tanzvergnügen, worein Du gerissen bist, dauert noch manches Sündenjährchen, und wir möchten nicht hoch wetten, dass Du davonkommst.“

Jünger und Mann standen für eine politische Haltung

Die Übereinstimmung der negativen Sicht auf den Krieg, die in diesen Zitaten zum Ausdruck beider Autoren kommt, ist nicht nur auffällig, sondern frappierend. Der Unterschied ist nur, dass Jünger in den „Stahlgewittern“ die Gründe dafür Tag für Tag und Jahr für Jahr darlegt, während sich der Erzähler des „Zauberbergs“ mit einer Frage aus der grausamen Realität verabschiedet, veranschaulicht mit einer pathetischen Metapher: „Wird auch aus diesem Weltfest des Todes, auch aus der schlimmen Fieberbrunst, die rings den regnerischen Abendhimmel entzündet, einmal die Liebe steigen?“

Jünger kannte den „Zauberberg“ ebenso wie „Betrachtungen eines Unpolitischen“, wie einige seiner Artikel des Jahres 1927 zeigen, die in nationalistischen Zeitschriften erschienen sind (wieder in dem von Sven Olaf Berggötz herausgegebenen Band „Politische Publizistik“, 2001). Während er den Roman nur einmal mit Hinweis auf die Figur des Settembrini erwähnt hat, griff sein Bruder Friedrich Georg dessen Verfasser in einem Beitrag mit dem Titel „Der entzauberte Berg“, im März 1928 in der Zeitung „Der Tag“ erschienen, scharf an. „Thomas Mann“, so schreibt er, „der exakte Darsteller einiger Fäulnisprozesse am menschlichen Bestande, würde uns vollkommen gleichgültig sein, wenn er sich nicht aus seinem luftdicht abgeschlossenen Zauberberg hervorgewagt hätte, um mit seiner Feder nach dem deutschen Nationalismus zu stechen.“ Ein Grund für diese Attacke war, dass sich Thomas Mann schon 1922, zwei Jahre vor Erscheinen des „Zauberbergs“, in seiner Rede „Von deutscher Republik“ zur parlamentarischen Demokratie und zu den Friedensvereinbarungen bekannt hatte und auch weiterhin daran festhielt – ganz im Gegensatz zu den Brüdern Jünger.

Allerdings war Ernst Jüngers Kritik an den „Betrachtungen“ differenzierter, da ihm die gedankliche Nähe seiner Artikel der späten Zwanzigerjahre zu Thomas Manns Essaybuch bewusst war: Beide bekannten sich zum Krieg und zur deutschen Nation und standen damit für eine politische Haltung, die Thomas Mann 1921 in dem Beitrag „Russische Anthologie“ als „Konservative Revolution“ bezeichnet hatte. Sprach Jünger im Februar 1927 in der Zeitschrift „Arminius“ noch von der „wunderbaren Klarheit“ der „Betrachtungen“, so warnte er wenige Monate später in derselben Zeitschrift unter der Überschrift „Student sein“ mit Bezug auf Thomas Mann davor, dass sich „der Typ solcher Meister der Phrase“ in den Reihen der Nationalisten „einzunisten“ versuche. Zu einer publizistischen Kontroverse kam es in den Zwanzigerjahren nicht, da Jünger die nationalistischen Auffassungen in der autobiographischen Essaysammlung „Das Abenteuerliche Herz“ (1929) ebenfalls hinter sich gelassen hatte, auch wenn er sich davon nie so deutlich distanzierte wie Thomas Mann.

Kritik, Polemik und Ignoranz

Bedeutung bekamen die Ideen für Jünger erst wieder, als Armin Mohler 1950 unter dem Titel „Die Konservative Revolution in Deutschland 1918– 1932“ ein Buch über die rechtskonservativen und rechtsradikalen Strömungen der Weimarer Republik veröffentlichte, das zuvor von der Universität Basel als Dissertation angenommen worden war. Thomas Mann nahm hier eine wichtige Rolle ein, da Mohler dessen „Betrachtungen“ als „Standardwerk“ der „Konservativen Revolution“ und den „Zauberberg“ einerseits als „Zeugnis der Ablösung“, andererseits aber auch als Ausdruck eines „starken Ihr-verhaftet-Seins“ bezeichnet. In der Tat werden die politischen Ideen der Zeit von den Hauptfiguren Settembrini und Naphta diskutiert.

Von Interesse sind Mohlers Erläuterungen zu Thomas Mann in diesem Zusammenhang vor allem, weil Abschluss und Drucklegung des Buches mit seiner Tätigkeit als Sekretär Ernst Jüngers in Ravensburg und Wilflingen zusammenfielen. Obwohl Jünger den Begriff der „Konservativen Revolution“ selbst nie für sich verwendet hatte, vereinnahmte der Verfasser seinen Chef dafür, ohne dies genauer darzulegen (stattdessen bezieht er sich auf den für Jünger zentralen Begriff des Nihilismus). Da Jünger seinem Sekretär in diesem Falle nicht öffentlich widersprach, folgte die Forschungsliteratur Mohlers Auffassungen ohne weitere Differenzierung, wie das bis heute einflussreiche Buch von Stefan Breuer mit dem Titel „Anatomie der Konservativen Revolution“ (1993) deutlich werden lässt, in dem Thomas Mann als Vordenker im Gegensatz zu Jünger keine Rolle spielt.

Dagegen meinte Jünger in der Erzählung „Das Haus der Briefe“, die 1951 in einer bibliophilen Schweizer Reihe, also an eher abgelegener Stelle, erschienen ist, dass „jede konservative Revolution ins Leere stoßen“ und damit „scheitern“ müsse, da bereits das Wort „konservativ“ von „einem Gefühl des Mangels“ zeuge. „Der Mensch“ aber, so Jünger weiter, wolle „nicht zurück“, sondern ziehe vielmehr „Erkenntnis, Vergeistigung, auch unter Schmerzen, vor“. Jünger macht damit ein anthropologisches Argument gegen die Ideologie des Konservatismus geltend. Thomas Mann hatte seine ­Neuorientierung in den Zwanzigerjahren dagegen mit der politischen Entwicklung in der Weimarer Republik begründet. Die Abkehr von nationalistischen Positionen verbindet beide Autoren. Doch wurden die Gemeinsamkeiten, die in den „Stahlgewittern“ und im „Zauberberg“ zum Ausdruck kommen, durch Kritik, Polemik und Ignoranz auf beiden Seiten dauerhaft überspielt.