Fleischfressende Raupe tarnt sich mit Überresten ihrer Opfer

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Mit Superlativen – das wissen die meisten Journalisten – sollte man sparsam umgehen. Sie nutzen sich sonst ab. Bei der Raupe, die Biologen der Universität von Hawaii entdeckt haben, darf man aber guten Gewissens sagen: Sie ist etwas ganz Besonderes.

Das beginnt schon damit, dass es sich um eine Fleischfresserin handelt. Von den weltweit 200.000 bekannten Motten- und Schmetterlingsarten haben nur 0,13 Prozent fleischfressende Raupen. Der Rest begnügt sich mit Blättern und anderen Pflanzenteilen. Doch selbst aus diesem exklusiven Kreis sticht die neu beschriebene Raupe heraus. Das liegt an ihrer Lebensweise. Die Fachleute tauften sie nicht umsonst „Knochensammlerin“ („bone collector“).

Untermieterin in dunkler Mission

Die Raupe lebt ausschließlich auf Spinnenweben. Genauer gesagt in sogenannten Raumnetzen, die Spinnen in Höhlen oder Löchern in Baumstämmen bauen. Gewöhnliche Radnetze meidet sie.

Als Untermieterin in dunkler Mission läuft sie in den Netzen umher, spürt geschwächte und tote Insekten auf, die sich darin verfangen haben, und frisst sie – bevor die Spinne sie verspeist. Die Forscher haben einige Exemplare der Raupe gefangen und beobachtet. „Sie attackieren alle langsamen und unbeweglichen Insekten, und sie fressen sich sogar gegenseitig“, schreiben sie im Magazin „Science“. Dieser Kannibalismus sorgt dafür, dass immer nur eine Knochensammlerin pro Spinnennetz lebt. „Denn sonst würde das größere Exemplar seinen kleinen Nachbar rasch auffressen“, so die Forscher.

Eine getarnete Knochensammlerin (links)
Eine getarnete Knochensammlerin (links)Rubinoff lab, Entomology Section, University of Hawaii, Manoa

Zu ihrem Namen kommt die Knochensammlerin jedoch nicht wegen ihres Kannibalismus, sondern weil sie die nichtessbaren Reste ihrer Opfer in außergewöhnlicher Weise nutzt: Sie arbeitet diese Körpereile in eine seidene Körperhülle ein: Hier der Kopf einer Ameise, dort der eines Rüsselkäfers, daneben ein Fliegenbein und das Abdomen eines Borkenkäfers. Die Raupe bastelt sich also eine Art Tarnumhang, genauso wie es die Larve eine Köcherfliegen hierzulande tun. In den Raupenhüllen fanden die Forscher die Überreste aus insgesamt sechs Insektenfamilien.

Das solle nicht bedeuten, dass die Tiere nicht wählerisch seien, betonen die Wissenschaftler. Ganz im Gegenteil: „Die Körperteile werden sorgfältig vermessen, bevor die Raupe sie in ihre Sammlung aufnimmt“, heißt es in der Studie. Die Knochensammlerin drehe jeden potentiellen Neuzugang zu ihrer Sammlung mehrmals hin und her und betaste ihn mit ihren Mundwerkzeugen. Große Fragmente zerkaue sie so lange, bis sie passten.

Makabre Strategie dient der Tarnung

Als die Forscher gefangenen Exemplaren andere kleine Objekte anboten, nahmen die Raupen diese nicht an. „Das deutet darauf hin, dass sie nur Teile von Kadavern verwendet und dass diese wichtig für ihr Überleben sind“, schreiben die Wissenschaftler. Vermutlich diene diese „makabre Praxis der Dekoration“ als Tarnung vor der Spinne, in deren Netz die Raupe lebt. Mit anderen Worten: Die Knochensammlerin tut so, als sei sie ein Haufen Knochen.

Die Forscher fanden die Raupen in Netzen von vier Spinnenarten. Keine davon war in Hawaii heimisch. Die Knochensammlerin hat sich also an neue Arten angepasst. Diese Flexibilität könnte ihr Überleben gesichert haben, denn viele Ökosysteme in Hawaii sind inzwischen von fremden Arten dominiert.

Dereinst weit verbreitet, heute selten

Doch wie lange das noch so weitergeht, ist unklar. In über 22 Jahren Feldarbeit haben die Wissenschaftler insgesamt nur 62 Exemplare entdeckt. Analysen haben ergeben, dass die Wurzeln der Knochensammlerin stammesgeschichtlich mehr als sechs Millionen Jahre zurückreichen – und damit drei Millionen Jahre älter sind als die Insel O’ahu, auf der die Raupe heute lebt.

Demnach müssen ihre Vorfahren dereinst auf anderen Inseln heimisch gewesen sein und sich von dort aus verbreitet haben. Lediglich die nun beschriebene Art hat überlebt. Noch dazu ist sie ausschließlich auf einem 15 Quadratkilometer großen Areal einer Bergkette auf der Inseln Insel O’ahu zu finden.

Die Forscher kommen zu dem Schluss: „Ohne Schutzmaßnahmen ist es wahrscheinlich, dass der letzte lebende Vertreter der fleischfressenden und Körperteile sammelnden Raupen, der sich an ein prekäres Leben in Spinnennetzen angepasst hat, verschwinden wird.“ Mit der Knochensammelei wäre dann für immer Schluss – und die Welt wäre um ein ganz besonderes Tier ärmer.