Warum Papst Franziskus der Markt fremd bleiben musste

5

Evangelii gaudium“, so ist das erste Apostolische Schreiben von Papst Franziskus überschrieben: „Über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute“. Die Schrift wurde wenige Monate nach seiner Wahl zum Papst im Jahr 2013 veröffentlicht. „Evangelii Gaudium“ ist keine Enzyklika, kein Lehrschreiben. Ihr Ziel es ist, Handreichungen für das „Evangelisierungswerk der Kirche“ zu geben.

In „Evangelii gaudium“ findet sich der berühmte Satz: „Diese Wirtschaft tötet“. Der Papst untermauert sein Verdikt mit vier harten Neins, die sich wenden gegen das Prinzip des Wettbewerbs als Diktat der Konkurrenzfähigkeit und des Gesetzes des Stärkeren, gegen das Prinzip des Geldes als Vergötzung des Konsums, gegen das Prinzip des Eigentums als Raub an den Rechten der Armen und gegen das Prinzip des Marktes als Arrangement, das blind sei gegenüber Fragen der Verteilung.

Franziskus war für radikale Umverteilung

Franziskus spricht sich für eine Politik radikaler Umverteilung aus. Es sei geboten, „dem Armen das zurückzugeben, was ihm zusteht“. Dazu bedürfe es „weiterer struktureller Umwandlungen“. Die am meisten Begünstigten müssten auf einige ihrer Rechte verzichten, um mit größerer Freigiebigkeit ihre Güter in den Dienst der anderen zu stellen.

Diese „Option für die Armen“ konkretisiert sich für den Papst im Auftrag an alle Menschen, barmherzig zu sein. „Ein wenig Barmherzigkeit macht die Welt weniger kalt und viel gerechter“, sagte Franziskus gleich bei seinem ersten Angelusgebet nach seiner Wahl. Er berief sich dabei auf den deutschen Kurienkardinal und Theologen Walter Kasper, seinen Nachbarn im Konklave.

Vorbilder sind dem Papst der heilige Franziskus von Assisi und die selige Mutter Teresa von Kalkutta. Franz hatte seinen Besitz weggegeben; Teresa übte Barmherzigkeit an den Kranken und Obdachlosen Kalkuttas. Ökonomie, so der Papst, sei „die Kunst, eine angemessene Verwaltung des gemeinsamen Hauses zu erreichen, und dieses Haus ist die ganze Welt“.

Soll man Papst Franziskus deshalb einen „Linken“ nennen? Das würde wenig erklären. „Populist“ wäre angemessener, wäre der Begriff nicht vollständig kontaminiert.

Sind Liberale wirklich Egoisten?

Mit „Evangelii Gaudium“ setzte Franziskus eine kritische Tonalität gegenüber der Marktwirtschaft, die er auch in seinen beiden Sozialenzykliken „Laudato Si“ von 2015 und „Fratelli Tutti“ von 2020 weder korrigieren noch nennenswert differenzieren sollte. In „Laudato Si“ beschreibt er den Kapitalismus als „ein strukturell perverses System von kommerziellen Beziehungen und Eigentumsverhältnissen“, das die armen Nationen und die kommenden Generationen um das beraube, was sie zum Überleben brauchten. In „Fratelli Tutti“ beschuldigt Franziskus Populismus und Liberalismus gleichermaßen der „Verachtung für Schwache“.

DSGVO Platzhalter

Populisten und Liberale sind ihm Demagogen, die egoistisch die Menschen für ihre Zwecke instrumentalisieren. Fast klingt es so, als habe der Papst für den Populismus am Ende mehr Sympathien als für den Kapitalismus: Mit Respekt spricht er von „volksnahen Anführern“, die es verstünden, „das Volksempfinden“ zu interpretieren und im Sinne des Gemeinwohls zu bündeln. Die Marktwirtschaft gilt ihm als Teufelswerk: durchseucht von Egoismus, Antrieb zu ruinösem Wettbewerb und asozialem Lob des Privateigentums.

Unter Ökonomen hat diese pauschale, wenig differenzierte Marktwirtschaftskritik des Papstes während seines gesamten Pontifikats Kopfschütteln ausgelöst. Ein der katholischen Kirche gewogener Wirtschaftswissenschaftler wie der Siegener Ökonom Nils Goldschmidt riet Franziskus, „auf das pauschale Neoliberalismus-Bashing, das ihm in kapitalismuskritischen Lagern Applaus einbringe“, zu verzichten. Ifo-Chef Clemens Fuest zollte zwar der Forderung nach Solidarität mit den Schwachen Anerkennung, kritisierte aber, die Enzyklika „Fratelli Tutti“ strotze vor antimarktwirtschaftlicher Ideologie und Fehleinschätzungen über die Globalisierung und die Rolle von Privateigentum.

Kirche steht dem Privateigentum traditionell skeptisch gegenüber

Nun kann es dem Papst einer universalen Kirche mit 1,4 Milliarden eingetragenen Gläubigen egal sein, was deutsche Ökonomen von seiner Marktwirtschaftskritik halten. Zumal er sich darauf berufen könnte, dass auch in deutschen katholischen Kirchengemeinden der Kapitalismus noch nie einen guten Ruf genoss. Geldgier, Ausbeutung, Ungleichheit, soziale Kälte, Raubbau und Umweltzerstörung sind Feindbilder, die zum rhetorischen Inventar vieler sonntäglicher Predigten zählen. Dieser verbreitete „Herz-Jesu-Sozialismus“ ist in der Regel durch wenig Sachkenntnis getrübt. Mangelnde ökonomische Kompetenz werde durch „prophetische Gestikulation“ ersetzt, wie der Schweizer Theologe Arthur Fridolin Utz zu spotten pflegte.

Mehr noch: Franziskus kann sich auf Fragmente der kirchlichen Tradition seit ihren Anfängen berufen. Gerne zitiert er Johannes Chrysostomos, einen Theologen des 4. Jahrhunderts: „Die eigenen Güter nicht mit den Armen zu teilen bedeutet, diese zu bestehlen. Die Güter, die wir besitzen, gehören nicht uns, sondern ihnen.“ Gott habe ein und dieselbe Erde allen überlassen. Der Unfriede habe erst begonnen, als der Mensch „jenes kalte Wort Mein und Dein sprach.“

Auch der Kirchenlehrer Ambrosius (339 bis 397) war der Auffassung, Gott habe die Erde allen Menschen zum gemeinsamen Eigentum gegeben. Das Privateigentum dagegen sei aus Habgier entstanden. Bekanntlich lobte Jesus jene Menschen, die um der Nachfolge willen ihren persönlichen Besitz den Armen geben. Im Matthäusevangelium heißt es, wer vollkommen sein wolle und sein Eigentum den Armen gebe, der werde später Schätze im Himmel erwerben. Es schließt sich jener berühmte Satz an, wonach eher ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als dass ein Reicher in den Himmel komme.

In dieser Tradition, die Reichtum geißelt und Privateigentum ablehnt, hat die Kirche im 19. Jahrhundert in vielen amtlichen Verlautbarungen den Liberalismus der Aufklärung scharf verurteilt. Der „Syllabus Errorum“, von Papst Pius IX. seiner Enzyklika Quanta Cura von 1864 angefügt, listet 80 irrige Sätze auf, die von der katholischen Kirche verdammt werden. In dieser geballten Form sei die Moderne vorher noch nie von der Kirche abgelehnt worden, schreibt der Münsteraner Kirchenhistoriker Hubert Wolf. Als falsch verurteilt wird zum Beispiel der Satz: „Der Römische Bischof kann und soll sich mit dem Fortschritt, mit dem Liberalismus und mit der modernen Kultur versöhnen und anfreunden.“

Die Kirchen haben eine Soziallehre entwickelt

Diese Fundamentalkritik der Päpste hinderte die Kirche vor allem in Deutschland nicht daran, eine eigene „Soziallehre“ zu entwerfen, die zwar auf Distanz zu Kapitalismus und Marktwirtschaft pochte, sich aber zugleich auf die Logik der Marktwirtschaft im industrialisierten Kapitalismus einließ. Seit dem späten 19. Jahrhundert habe sich die Einsicht durchgesetzt, dass die neuen Verhältnisse der kapitalistischen Moderne – die Trennung von Kapital und Arbeit, die Gewerbefreiheit und die freie Lohnarbeit, der Wettbewerb und die Marktwirtschaft – „nicht umzustoßen und auch keineswegs einer schlichten Pauschalverurteilung zu unterwerfen seien“, schreibt der Theologe Hermann Josef Grosse Kracht unter Berufung auf den Mainzer Bischof Emmanuel von Ketteler (1811 bis 1877).

Auf dieser Grundlage entwickelte sich in der Weimarer Republik eine eigenständige katholische Kapitalismustheorie. So heißt es im 1927 erschienenen „Staatslexikon“ der katholischen Görres-Gesellschaft, es gelte zu unterscheiden zwischen der „zu begrüßenden kapitalistischen Wirtschaftsweise“ und dem zu bekämpfenden „kapitalistischen Wirtschaftsgeist“. Was die kapitalistische Wirtschaftsweise betrifft, sei festzuhalten, dass sie der Menschheit „reiche Früchte gebracht und zur „Hebung der Lebensgestaltung weiter Volkskreise“ beigetragen haben.

Die katholische Soziallehre ist bis heute eine weitgehend deutsche Angelegenheit geblieben. Sie changierte zwischen distanzierter Anerkennung und polemischer Verurteilung des Kapitalismus, immerhin darum bemüht, die marktwirtschaftliche Logik zu verstehen. Während Oswald von Nell-Breuning (1890 bis 1991), ein Jesuit wie Papst Franziskus, der mit dem Etikett „Nestor der katholischen Soziallehre“ versehen wurde, sich weigerte, von „sozialer Marktwirtschaft“ zu sprechen und auf dem Terminus „sozial temperierter Kapitalismus“ bestand, näherte sich der Theologieprofessor und spätere Kölner Kardinal Joseph Höffner (1906 bis 1987) sehr weit den Auffassungen der Freiburger Schule des Ordoliberalismus: mit einem Bekenntnis zu Markt und Wettbewerb und dem Plädoyer für einen starken, aber schlanken Staat, der die Spielregeln der Wirtschaft bestimmt, aber selbst nicht in das Spiel eingreift.

Franziskus‘ Prägungen sind komplett andere: sie kommen einerseits aus der sogenannten „Theologie der Befreiung“ und – weitaus stärker noch – aus dem Peronismus. Als langjähriger Bischof von Buenos Aires hat er das Los der Verelendung seiner Landsleute stets angeprangert und sich theologisch auf die Seite der „Option für die Armen“ geschlagen. Den peruanischen Dominikanerpater Gustavo Gutierrez (1928 bis 2024), der als Begründer der marxistisch inspirierten „Theologie der Befreiung“ gilt, lobte er „für seine Liebe zu den Armen und Ausgegrenzten“ und für alles Gute, was dieser für die Kirche und die Menschheit getan habe.

Auf der Suche, wo das für Franziskus‘ Frömmigkeit konstitutive Lob der Armen herkommt, führt die Spur zum populistischen Peronismus in Argentinien, benannt nach Juan Domingo Perón (1895 bis 1974), einem der prägendsten Politiker des Landes im 20. Jahrhundert. Für den Peronismus sind die Armen „die Bewahrer eines nicht von Egoismus, ökonomischen Interessen, Geld und Individualismus korrumpierten Reinheit“, wie der italienische Lateinamerika-Historiker Loris Zanatta sagt. Der Peronismus lebt von den Armen, so Zanatta, was nicht zynisch, sondern analytisch gemeint ist. Die Armen würden sowohl politisch als Wähler wie theologisch als Kirchenvolk instrumentalisiert. Würden die Armen ihr Elend verlassen, verlöre die peronistische Soziallehre ihre Basis und Legitimation. Eine Marktwirtschaft, die die Armen reich macht, stört. Es überrascht nicht, dass für den derzeitigen argentinischen Präsidenten Javier Milei der Peronismus die Wurzel allen Übels ist.

Zanatta, der im Februar eine Biographie von Papst Franziskus vorgelegt hat („Bergoglio – una biografia politica“), spricht von einem „Jesuitenpopulismus“ in Südamerika, einer anti-modernistischen Theologie, der er Franziskus zurechnet. Diese gehe zurück auf die Zeit der Eroberung Lateinamerikas durch Spanier und Portugiesen: Es seien die „fremden“ Ideen des Liberalismus ohne Vaterland, des Individualismus, des egoistischen Kapitalismus und des gottlosen Säkularismus, die die Seele der Menschen in Lateinamerika verdorben hätten und seine Identität bedrohten. Dem gelte es zu widerstehen. Der Kampf gegen den Reichtum als Quelle aller Korruption sei dabei stets wichtiger als die Ausrottung der „heiligen“ Armut („pobrismo“), so Zanetta: „Das reine Volk Gottes sind die Randständigen.“

Im Kontext der lateinamerikanischen Tradition bekommt „Diese Wirtschaft tötet“ einen völlig neuen und für Europäer erst recht fremden Klang. Es geht dann weniger um Antikapitalismus; eine Auseinandersetzung mit der Marktwirtschaft ist gar nicht das Ziel. Es geht um die Sakralisierung der Armut, die sich im Gang an die Ränder der Gesellschaft realisiert.