Kanzler zu sein, ist schwer, es nicht mehr zu sein aber wohl auch. Die eigene Machtfülle ist dahin, ein anderer, oft auch noch von einer anderen Partei, lenkt jetzt die Geschicke des Landes. Ehemalige Bundeskanzler sind in der Geschichte der Bundesrepublik mit dieser Situation unterschiedlich umgegangen. Aber alle, bis auf Gerhard Schröder und Angela Merkel, haben die politische Arbeit im Parlament fortgesetzt. Alle sind Bundestagsabgeordnete geblieben, zum Teil sehr lange Zeit.
Die neue Rolle als einer unter vielen kann zu Kniffligkeiten führen. Kurt Georg Kiesinger, 1969 abgewählt, war noch bis 1980 Bundestagsmitglied. Einmal sagte er in letzter Minute die Teilnahme an einer Veranstaltung ab, weil das Protokoll ihn als ehemaligen Bundeskanzler niedriger einschätzte als den amtierenden Außenminister. Kiesinger hatte nach seiner Abwahl die Rolle des Oppositionsführers eingenommen, er verlor aber zusehens den Rückhalt in der CDU/CSU-Fraktion. Die nächste Generation brachte sich in Stellung. Dabei dürfte der CDU-Mann mit der durch ihn verkörperten personellen Kontinuität geholfen haben, dass die Union nach ihrer Wahlschlappe nicht vollends überfordert war mit der neuen Oppositionsrolle. Als 1972 das konstruktive Misstrauensvotum gegen Kanzler Willy Brandt zur Abstimmung stand, durfte Kiesinger noch mal ran und es begründen. Ohne Erfolg. Acht Jahre später schied er aus dem Bundestag aus.
Adenauer stichelte gegen Erhard
Ehemalige Bundeskanzler sind gefragte Personen. Für die Öffentlichkeit wird es vor allem dann spannend, wenn sie über ihre Nachfolger herziehen. Diese Tradition begründete gleich der erste Bundeskanzler, Konrad Adenauer. Nach seinem Rücktritt („Ich gehe nicht leichten Herzens“) im Jahr 1963 blieb er noch drei Jahre Bundestagsabgeordneter, wie immer direkt gewählt im Wahlkreis Bonn. In zahlreichen Interviews machte er deutlich, für wie ungeeignet er seinen Nachfolger Ludwig Erhard im Amt des Kanzlers hielt.
Adenauer mischte in der Tagespolitik und im Wahlkampf mit. Täglich fuhr er in sein Büro im Bundeshaus und schrieb an seinen Memoiren. Ihm bereitete vor allem Sorgen, dass Erhard sich nicht anständig um das deutsch-französische Verhältnis kümmerte. Mit mehr als 90 Jahren reiste Adenauer noch nach Israel, um auch dort aussöhnend zu wirken. 1965 hielt er als Alterspräsident die Eröffnungsrede im Bundestag. Sie war kurz und klar: Es kommen schwere Zeiten, wir müssen das gemeinsam durchstehen.
Auch sein Nachfolger Erhard hielt als Alterspräsident eine Rede. Da war der frühere CDU-Kanzler noch einmal ganz bei sich: Es ging um die Marktwirtschaft, um Wachstum, die Inflation und die Gefahr des Sozialismus. Sein Ansehen in der eigenen Partei wuchs langsam wieder. Zweimal lehnte Erhard eine Nominierung für das Amt des Bundespräsidenten ab. Er blieb stattdessen bis zu seinem Tod 1977 einfacher Abgeordneter.
Brandt machte einfach weiter
Diese Form der Selbstbeschränkung war für Willy Brandt, den ersten SPD-Kanzler der Bundesrepublik, keine Option. Brandt machte nach seinem Rücktritt 1974 einfach weiter – bis 1987 war er SPD-Vorsitzender, bis 1992 Bundestagsabgeordneter. Seine Friedenspolitik bestimmte in der SPD alles. Er gab die Richtung vor und genoss herausragende Autorität. Unter Schmerzen stimmte Brandt für den NATO-Doppelbeschluss, gegen die Nachrüstung der Kohl-Regierung zog er aber zu Felde. Wenn Helmut Kohl im Bundestag als Kanzler sprach, war es Brandt, der für die SPD antwortete. Von Bundeskanzler a.D. zu Bundeskanzler. Vielen Genossen war er ein Ratgeber, und er gab strategische Tipps – etwa den, die CDU nicht um jeden Preis aus der Opposition heraus zu kritisieren. Genauso konnte Brandt aber auch vernichtend wirken. Er sprang dem Kanzlerkandidaten Oskar Lafontaine nicht zur Seite, als der die deutsche Einheit ablehnte. Das war schon fast Wahlkampfhilfe für Kohl. Bis heute aber fühlen sich Sozialdemokraten auf der sicheren Seite, wenn sie zu einem beliebigen Politikfeld ein Zitat von Brandt parat haben.
Ganz anders ist das bei Helmut Schmidt, dem zweiten SPD-Kanzler. Sein Verhältnis zur eigenen Partei war immer wieder schwierig. Nach dem Ende seiner Kanzlerschaft blieb er bis 1987 trotzdem Mitglied der SPD-Fraktion. Bei seinem Abschied gab es dann Beifall von allen Seiten. Schmidt machte als Publizist weiter Politik und äußerte sich regelmäßig zu vor allem außenpolitischen Fragen.
Genau wie er blieb auch Helmut Kohl noch einige Zeit nach seiner Abwahl Abgeordneter. Er schied 2002 nach 26 Jahren aus dem Bundestag aus. Seine Arbeit als Parlamentarier wurde aber schnell überschattet von der CDU-Parteispendenaffäre. Sein Nachfolger Gerhard Schröder hängte gar keine Parlamentszeit mehr dran, er wechselte direkt in die Wirtschaft und das Energiereich von Wladimir Putin. Angela Merkel kandidierte 2021 nicht mehr als Kanzlerin und auch nicht mehr für den Bundestag.
Und Olaf Scholz? Er befindet sich gerade an der Schwelle. Am Wahlabend, dem Tag seiner Niederlage, zeigte sich Scholz ehrlich beglückt, wieder direkt in den Bundestag gewählt worden zu sein. Es heißt, er sei sich der Verantwortung bewusst, der einzige direkt gewählte Abgeordnete der politischen Mitte in Ostdeutschland zu sein.