Es ist, als wäre Ruhe in die SPD eingekehrt. Bei der ersten Dialogkonferenz in Hannover vor knapp zwei Wochen war die Stimmung angespannt. Der Parteivorsitzende Lars Klingbeil kämpfte regelrecht um die Zustimmung der Basis, hielt eine engagierte, stellenweise atemlos vorgetragene Rede. Die Kritik am Koalitionsvertrag mit CDU und CSU, die besonders Mitglieder der Jugendorganisation Jusos vortrugen, war scharf und unversöhnlich. Eine mehrheitliche Ablehnung des Bündnisses schien keineswegs ausgeschlossen. Die SPD rang mit sich. Als die Parteispitze am Samstagnachmittag zur letzten Dialogkonferenz vor dem Ende der Abstimmung zum Koalitionsvertrag ins nordhessische Baunatal reiste, schien sie den Kampf für sich schon als gewonnen verbucht zu haben.
Bis Dienstag läuft die Abstimmung zwar noch, aber jene, die den Zwischenstand der Online-Befragung kennen, wirkten nicht beunruhigt. Statt an die staatspolitische Vernunft zu appellieren – das, was in der SPD noch funktioniert, wenn nichts mehr geht – wurden ruhig die Inhalte des Koalitionsvertrags abgewogen. Immer wieder gab es dafür Applaus.
Zufrieden sind die Sozialdemokraten, die an einem sonnigen Nachmittag in die Stadthalle gekommen sind, jedoch keineswegs. Anette Milas, die aus Baunatal kommt, sagt, dass die Parteispitze angesichts des Bundestagswahlergebnisses von 16,4 Prozent gut verhandelt habe, dass viel Gutes im Koalitionsvertrag stehe. Doch sie vermisst manches in der Sozialpolitik, sie hätte sich mehr Zusagen zum Schutz von Frauen gewünscht. „Ich werde wohl zustimmen, aber mit einem Schatten auf meinem Herzen“, sagt sie.
Auch Samier Weise, Lehramtsanwärter, hätte sich in der Sozialpolitik „einfach mehr erhofft“. Entscheidend sei aber, dass die Bundeswehr ertüchtigt und die Verteidigungsfähigkeit erhöht werde. Auch wenn das in der SPD keine Mehrheitsmeinung sei, wie er sagt, habe er deshalb zugestimmt. „Gut ist der Koalitionsvertrag nicht”, schiebt er am Ende noch hinterher.
„Symbolhaft für die Seele der Sozialdemokratie“
In dieser Mischung aus Pflichtbewusstsein und sanfter Enttäuschung, die viele Genossen schildern, findet Lars Klingbeil den richtigen Ton. Er gesteht das schlechte Wahlergebnis ein, sagt aber auch, dass man sich nicht klein machen lasse. Er grenzt sich von der Union ab, in der manche eine Normalisierung im Verhältnis zur AfD fordern, und verteidigt die ausgehandelten Investitionen „in die Bundeswehr und in die Sicherheit unseres Landes”, die man erreicht habe.
Er schließt seine Rede mit den Worten: „Ich bin der Überzeugung, dass es dem Land immer besser geht, wenn Sozialdemokraten regieren.” Dafür gibt es Beifall. Neben Klingbeil und seiner Ko-Vorsitzenden Saskia Esken stehen die ehemalige Bundestagspräsidentin Bärbel Bas und der noch amtierende Arbeitsminister Hubertus Heil. Alle vier haben den Koalitionsvertrag verhandelt.
Bis die erste Frage auf der Dialogkonferenz gestellt wird, vergehen 40 Minuten der Einleitung und des Begrüßens. Für alle Zugereisten erklärt der hessische SPD-Vorsitzende Sören Bartol noch, dass Nordhessen „symbolhaft für die Seele der Sozialdemokratie“ stehe. Auch wenn sich zwei ältere Herren schneller gemeldet haben, geht die erste Frage an einen jungen Mann, mit 19 Jahren vielleicht der jüngste Sozialdemokrat im Saal. Angesichts der relativierenden Äußerungen des CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz will er wissen, ob der Mindestlohn von 15 Euro komme.
Den künftigen Regierungsmitgliedern noch etwas mitgeben
Heil nutzt die Frage, um lieber über das Tariftreuegesetz zu sprechen, das Schwarz-Rot auf den Weg bringen will. Der Mindestlohn sei immer nur die Untergrenze, argumentiert er, entscheidend sei, dass es mehr tarifgebundene Arbeitsplätze gebe. Der Juso nickt zustimmend. Er hat zwar, wie er vorher sagte, mit „Nein” gestimmt, ist aber „nicht grundsätzlich“ gegen die Koalition. Dass sie kommt, halte er für wahrscheinlich.
Hubertus Heil ist es auch, der beinahe verschwörerisch sagt, sie wollten die Genossen ja auch „in die Verhandlungsdynamik“ mitnehmen. Wenn es um die Rente geht, sagt er, dass die SPD ein höheres Eintrittsalter und Abschläge verhindert habe. „Die CDU hatte da einiges vor“. Ein alter Trick: Messt uns nicht an dem, was im Vertrag steht, sondern an dem, was es nicht reingeschafft hat.
Es sind viele teils spezielle Fragen, die gestellt werden: Wie die Qualität von Kitas erhöht werden kann, wieso Schwangerschaftsabbrüche nicht aus dem Strafgesetzbuch gestrichen werden sollen und wie Kommunen entlastet werden. Keine von ihnen zielt darauf, eine Schwäche des Vertrags aufzuzeigen; es ist eher, als wollten die Sozialdemokraten noch ein paar Punkte mitgeben, an denen die künftigen Regierungsmitglieder arbeiten sollen.
Der Kampf gegen Rechtsextremismus taucht immer wieder auf
Den meisten Beifall bekommt ein Mann, der sich nicht mit einer Frage meldet, sondern einer Bemerkung. Er habe als 1940 geborenes Kind fünf Jahre das NS-Regimes erlebt, aufgrund seines Alters habe er sich nicht schuldig machen können. Jetzt sorge er sich, dass man sich schuldig mache, wenn man sich nicht dem Rechtsextremismus entgegenstelle.
Der Kampf gegen Rechtsextremismus, der so tiefer Bestandteil des sozialdemokratischen Selbstverständnisses ist, taucht immer wieder auf. Saskia Esken sagt: „Unsere Aufgabe in der nächsten Legislatur ist ganz klar – manche sagen sogar, das sei unsere letzte Chance –, wir müssen das Vertrauen in die Demokratie wiedererlangen, erneuern und ihre Feinde zurückdrängen.“ Es sei eine „historische Verpflichtung”, vor der man stehe. Damit appelliert sie doch an die staatspolitische Verantwortung.
Auch Dirk Eberhardt, er arbeitet in einer Landesbehörde in Nordhessen, sieht die Gefahren, die dem Land bei einem „Nein“ zum Koalitionsvertrag drohten. Er sagt am Rande der Veranstaltung: „Entweder wir regieren oder wir werden nach einer Neuwahl von der AfD regiert”. Zufrieden ist er mit dem Verhandlungsergebnis keineswegs, er habe sich gewünscht, dass Schwerbehinderte mit geringeren Abschlägen früher in Rente gehen können. Zustimmen will er trotzdem.
Am Ende fragt der hessische Wissenschaftsminister Timon Gremmels, Bezirksvorsitzender der SPD in Nordhessen, wer denn schon abgestimmt habe. Sehr viele Hände gehen hoch. Bei der Gegenprobe melden sich deutlich weniger. Gremmels ist beim Rausgehen beschwingt. Als „harmonisch“ beschreibt er die Dialogkonferenz. Ein Abgeordneter hält die Zustimmung für wahrscheinlich. Er hofft, dass die Beteiligung hoch ausfällt und das „Ja“ zum Koalitionsvertrag deutlich ist. Am Mittwoch soll das Ergebnis des Mitgliederentscheids bekannt gegeben werden.