Für Pierre Poilievre lief es zuletzt ohnehin nicht gerade blendend. Dann glaubte Danielle Smith auch noch, sie habe einen großartigen Einfall. Die konservative Regierungschefin der kanadischen Provinz Alberta gab dem amerikanischen Rechtsaußen-Portal „Breitbart“ ein Interview. In dem Gespräch, das im März stattfand, offenbarte sie, dass sie die Trump-Regierung gebeten habe, die Zölle gegen Kanada bis zur Parlamentswahl in ihrem Land auszusetzen. Grund für ihr Anliegen: Die Liberalen profitierten vom Handelskonflikt; die Chancen Poilievres, des Spitzenkandidaten der Konservativen, würden von Tag zu Tag kleiner.
Smith bekannte freimütig, sie habe Regierungsvertretern in Washington gesagt: „Lasst uns eine Pause einlegen, damit wir durch die Wahlen kommen.“ Dann könne Trump nach der Wahl mit Poilievre einen Deal machen. Doch die Taktik der Regierungschefin ging nicht auf. Faktisch bat sie Trump nämlich in einer nationalen Notlage um Wahlkampfhilfe für die Konservativen. Und dass auch noch just zu einem Zeitpunkt, an dem sich Poilievre gerade größte Mühe gibt, sich von dem Republikaner zu distanzieren. Als der Oppositionsführer im Unterhaus von Ottawa auf Smiths Bemerkung angesprochen wurde, reagierte er ausweichend und zog sich darauf zurück, Trump selbst habe gesagt, für ihn sei es leichter, sich mit einem Liberalen als Regierungschef auseinanderzusetzen.
Smiths unbedachter Kommentar fußte freilich auf einem zutreffenden Befund: Seit dem Trump sich auf Kanada eingeschossen hat – mit Zöllen und seinem Gerede darüber, den nördlichen Nachbarn annektieren zu wollen – haben die Konservativen ihren Vorsprung in den Umfragen eingebüßt. Die Stabübergabe von Ministerpräsident Justin Trudeau an Mark Carney gab den Liberalen zusätzlich Schwung. Die gemäßigt konservative Mitte, die Poilievre für sich mobilisieren muss, ist offenbar ins Grübeln geraten.
Zustimmungswerte für die Regierungspartei waren im Keller
Kanada wählt Montag ein neues Parlament – einen Tag nach der verheerenden Auto-Attacke mit elf Todesopfern und zahlreichen Verletzten in Vancouver. Ein Mann raste am Samstagabend bei einem Straßenfest in der westkanadischen Großstadt mit einem Fahrzeug in die Menschenmenge. Die Polizei geht nicht von einem terroristischen Motiv aus und erklärte, der festgenommene Fahrer habe in der Vergangenheit unter psychischen Problemen gelitten.
Die Wahl wurde vorgezogen: Eigentlich hätte Carney bis zum Herbst Zeit gehabt. Die Auseinandersetzung mit Washington, in der es nicht nur um einen schweren Handelskonflikt mit gravierenden wirtschaftlichen Folgen geht, sondern auch um die Identität der Kanadier, wollen die Liberalen nutzen. Alles in diesem Wahlkampf drehte sich um Trump. Das war im Herbst vergangenen Jahres, als sich das Ende der Ära Trudeau abzeichnete, da die sozialdemokratische NDP ihre Tolerierungsvereinbarung mit der liberalen Minderheitsregierung aufgekündigt hatte, noch nicht absehbar. Dass Trump kurz nach seiner Wahl Ottawa ins Visier nehmen würde, hatten die Kanadier nicht auf der Rechnung.
Poilievre hatte auf die Wechselstimmung im Land gesetzt, nach „zehn verlorenen liberalen Jahren“, wie er nun auf seiner Wahlkampftour nicht müde wird zu betonen. Tatsächlich waren die Zustimmungswerte für Trudeau und die Regierungspartei im Keller. Da war das Problem der Inflation und eine allseits unpopuläre Kohlendioxidsteuer. Auch in der eigenen Partei verlor Trudeau, der 2015 als Sunnyboy der westlichen Politik den konservativen Ministerpräsidenten Stephen Harper abgelöst hatte, an Rückhalt. Als seine langjährige Vertraute, Finanzministerin Chrystia Freeland, Ende des Jahres ihren Posten niederlegte, war endgültig klar, dass die Tage Trudeaus an der Spitze des Landes gezählt waren. Anlass für ihren Rückzug waren offiziell Differenzen im Umgang mit der Trump-Regierung. Eigentlich aber setzte sie wohl darauf, Trudeau zu folgen.
Das ging bekanntlich schief. Das parteiinterne Mitgliedervotum um den Parteivorsitz gewann Carney im März mit deutlichem Abstand. Kurz danach kam es zur Staffelübergabe im Amt des Ministerpräsidenten. Die Ära Trudeau war vorbei. Carney kam ins Amt und setzte wie erwartet Neuwahlen an – in der Hoffnung, die Trendumkehr, die Trump bewirkt hatte, zu nutzen. Seine Wahl an die Spitze der Liberalen Partei ist ein Experiment. Der 60 Jahre alte Ökonom ist Outsider und Insider zugleich. Carney sitzt nicht im Parlament und hatte noch nie ein Wahlamt inne. Doch steht der ehemalige Notenbanker durch und durch für die Elite des Landes. Er tritt gegen den 45 Jahre alten talentierten Berufspolitiker Poilievre an. Eine von vielen Besonderheiten dieser Wahl: Beide Spitzenkandidaten sind in Alberta aufgewachsen. Der Umstand wäre in normalen Zeiten durchaus ein Thema im Wahlkampf.
Auf Stimmenjagd in konservativer Hochburg
Wahlen in Kanada werden üblicherweise in den bevölkerungsreichen Provinzen Ontario und Quebec in Zentralkanada gewonnen oder verloren. In Ontario leben 14 Millionen, in Quebec neun Millionen der 41 Millionen Kanadier. Hier finden naturgemäß die meisten Wahlkampfveranstaltungen statt. Gewählt wird, wie im Mutterland Großbritannien, nach einfachem Mehrheitswahlrecht, dem „first-past-the-post“-System auf Wahlkreisebene. Anders als jenseits des Atlantiks ist das kanadische System mit Minderheitsregierungen, die von kleineren Parteien toleriert werden, vertraut.
2019 verlor Trudeau die absolute Mehrheit im Unterhaus und stand einer Minderheitsregierung vor, die nach 2021, der letzten Wahl, fortgesetzt wurde. Angepasst nach dem letzten Zensus, wird das neue Unterhaus 343 Sitze haben, rund 200 Abgeordnete vertreten dann Ontario und Quebec. Neben den Spannungen zwischen den Frankophonen und den Anglophonen gab es stets den Zentrum-Peripherie-Konflikt: Die Dominanz Zentralkanadas führte immer schon dazu, dass man im Westen des Landes denkt, „die“ in der Hauptstadt Ottawa scherten sich nicht um ihre Belange. Vor allem in Alberta, wo das Lebensgefühl eher dem Montanas entspricht, des südlich angrenzenden amerikanischen Bundesstaats. In Alberta verdient man das Geld mit Öl und Gas. Und am Wochenende geht man gern zum Rodeo, wenn man nicht gerade im Eishockey-Stadion sitzt.
Alberta ist die Hochburg der Konservativen. Trudeaus Kohlendioxidsteuer war hier besonders unbeliebt. Zwar arbeiten nur fünf Prozent der Beschäftigten der Provinz im Energiesektor. Doch 70 Prozent der Exporte Albertas sind Öl und Gas – der Großteil davon geht Richtung Amerika. Das soll sich ändern. Auch Calgary, die größte Stadt Albertas mit 1,5 Millionen Einwohnern in der Metropolregion, ist fest in der Hand der Tories. Sieben der elf Wahlbezirke der Stadt hält die Partei. In Erwartung eines knappen Wahlergebnisses könnte es am Ende auf einzelne Wahlkreise ankommen. Daher setzen auch die Liberalen auf die wenigen Wahlkreise in Alberta, in denen sie eine Chance haben. So lud George Chahal kürzlich Carney nach Calgary. Er gewann 2021 für die Liberalen den Wahlkreis im Nordosten der Stadt, den vorher die Konservativen gehalten hatten. Und er hat gute Chancen, ihn zu verteidigen, wenn der gegenwärtige Trend anhält.
Kanada rückt zusammen
Nach einem Stopp in der Provinzhauptstadt Edmonton kam Carney also ins McMahon-Stadion von Calgary. Er zog nicht nur überzeugte Parteianhänger an, sondern auch Unentschlossene, die sagten, man wolle sich vergewissern, dass Carney die richtigen Akzente setze. Das sollte heißen: Die Öl- und Gasindustrie müsse gestärkt werden, um die Abhängigkeit von Amerika zu verringern. Für andere Wechselwähler hat sich die Lage dadurch verändert, dass Trudeau, unter dem die Liberalen nach links gerückt waren, abgetreten ist. Carney gilt vielen nun als der einzig wahre zentristische Kandidat: Poilievre steht ihnen zu weit rechts. Und Jagmeet Singh, der Sozialdemokrat von der NDP, zu weit links.
Carney hatte gleichsam als erste Amtshandlung die Verbrauchersteuer auf Kohlendioxid abgeschafft. Er kündigte an, einen Weg zu finden, der Klimaschutz gewährleiste, aber weder die Bürger über Gebühr belaste noch die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie gefährde. In Calgary versprach Carney, mit den Provinzen und der Energiewirtschaft zusammenzuarbeiten, um ausländische Anbieter, wie jene aus den Vereinigten Staaten, zu verdrängen. Carney spielt offen die Trump-Karte.
Überspitzt formuliert, hätte der amerikanische Präsident den kanadischen Liberalen keinen größeren Gefallen tun können, als das Land mit Zöllen zu überziehen und die Souveränität des nördlichen Nachbarn in Frage zu stellen. Seither rückt das Land zusammen. Auf einmal treten Identitätsfragen der Quebecois ebenso in den Hintergrund wie Ressentiments gegen Ottawa in Alberta. „Canada strong“ nennt Carney nicht ohne Grund seine Kampagne: Für ein starkes Kanada. Er reitet auf der patriotischen Welle.
Poilievres Antwort darauf heißt „Canada first“. Den an Trumps MAGA-Rhetorik angelehnten Slogan versucht er, zu nutzen, um sich von dem Republikaner zu distanzieren: Er sei kein Trumpist. Sein Motto laute: Kanada zuerst. Auch er machte kürzlich Wahlkampf in Alberta und auch er stellte sich hinter die Energiewirtschaft. „Umweltextremisten“ in der liberalen Regierung hätten den Bau von Raffinerien und Pipelines verhindert, weshalb Kanada sein Öl nach Amerika exportieren müsse, statt es im eigenen Land aufzubereiten und anderswohin exportieren zu können. Auch möge man Carney bei der Kohlendioxidsteuer nicht glauben, sagte er. Die habe er nur ausgesetzt. Nach der Wahl wolle er sie in anderer Form wieder einführen. Carney werde die Trudeau-Politik im Falle eines Wahlsiegs fortsetzen, schließlich habe er seinen Vorgänger lange beraten.
Poilievres Botschaft will aber nicht mehr so recht verfangen. Der Spitzenkandidat der Konservativen gerät im Schlussspurt des Wahlkampfs sogar in den eigenen Reihen unter Beschuss. So verteidigte der Konservative Doug Ford, der mächtige Premier Ontarios, kürzlich seinen eigenen Kampagnenleiter, der die Wahlkampfstrategie Poilievres kritisiert hatte. Viel zu spät habe dieser auf die wirtschaftliche Bedrohung reagiert, die Trump darstelle. Das habe den Konservativen den Vorsprung von 25 Prozentpunkten in den Umfragen gekostet.
Wirtschaftsfachmann Carney verkörpert das Establishment
Melanee Thomas sitzt in einem Café im Uni-Viertel. Sie ist Politikwissenschaftlerin an der University of Calgary. Die Wahl Ende April sei angesichts der internationalen Lage eine der wichtigsten für Kanada seit langer Zeit, sagt sie. Die Ausgangslage beschreibt sie so: Carneys Vorteil sei gewiss die Wirtschaftskompetenz. Aber er stehe eben auch für die Elite. Das wäre ein Nachteil, wäre Poilievre nicht der klassische Typ Berufspolitiker. „Er hatte nie Stiefel an“, sagt Thomas über den Konservativen. Hätte er Erfahrung außerhalb der Politik, gleichsam im normalen Leben gesammelt, könnte er in Alberta eher gegen Carney punkten, wo ein Anti-Eliten-Wahlkampf eigentlich traditionell gut ankomme.
Poilievre ist zweifellos eine eloquente Erscheinung und ein talentierter Redner – mit einer Neigung zur populistischen Vereinfachung. Ihm mangelt es aber an Erfahrung. Er wurde 1979 in Calgary geboren – als Sohn einer 16 Jahre alten Highschool-Schülerin, die ihn dann zur Adoption freigab. Ein katholisches Lehrerehepaar nahm ihn auf. Er wuchs in einem Vorort von Calgary auf. Politik wurde früh sein Hobby. Er studierte internationale Beziehungen, las die Werke des Wirtschaftsliberalen Milton Friedman und engagierte sich bei den Tories. Harper, der letzte konservative Ministerpräsident, berief Poilievre in sein letztes Kabinett, in dem er zuletzt kurz als Minister für Beschäftigung diente. 2022 übernahm er den Vorsitz der Partei. Es sah lange nach einem Durchmarsch aus.
Nun ist alles anders. Die Liberalen setzten in der Nachfolge Trudeaus auf einen Wirtschaftsfachmann. Carney, im Nordwestterritorium geboren und in Edmonton aufgewachsen, verkörpert das Establishment: Er studierte in Harvard und Oxford Wirtschaftswissenschaft und arbeitete in unterschiedlichen Positionen bei der Investmentbank Goldman Sachs, bevor er zunächst Chef der Zentralbank in Kanada und dann der Notenbank in Großbritannien wurde. In Ottawa managte er die Finanzkrise und in London die Folgen des Brexit. Er sagt, das rüste ihn für den Handelskonflikt mit Trump.
Poilievre und Carney stammen zwar aus Alberta. Beide treten aber in Wahlkreisen in Ontario an, weil sie schon lange nicht mehr in ihrer Heimat leben. Als Carney zum Vorsitzenden der Liberalen gewählt wurde, verwies er auf einer Parteiversammlung in Ottawa auf seine Herkunft aus dem Westen. Er hob hervor, dass man Zentralkanada nicht gegen die anderen Provinzen ausspielen dürfe. Alle seien Kanadier. Und es gehe um Kanada. Selten traf dies so sehr zu wie in dieser Wahl.