Wenn sie wissen will, was Mittelständler umtreibt, muss Katherina Reiche nicht lange herumfragen. Die Familie der künftigen Wirtschaftsministerin im Kabinett von Friedrich Merz hat nach dem Zweiten Weltkrieg im brandenburgischen Luckenwalde einen Betrieb zur Plastikverarbeitung aufgebaut und durch bewegte Zeiten geführt. In der DDR wurde „Plaste Schulze“ enteignet, nach der Wiedervereinigung dann wieder reprivatisiert. Während viele andere Betriebe den Wechsel in die Marktwirtschaft nicht überlebten, gibt es diesen unter anderem Namen bis heute.
Dass Merz Reiche zur Wirtschaftsministerin machen will, hatte sich in den vergangenen Tagen bereits abgezeichnet. Dennoch sorgte die Personalie auch am Montag nach der offiziellen Bekanntgabe der Kabinettsliste der CDU weiter für Gesprächsstoff. Reiche, 51 Jahre alt und studierte Chemikerin, war in den vergangenen fünf Jahren Vorstandsvorsitzende des zum Eon-Konzern gehörenden Unternehmens Westenergie. Davor leitete sie den Verband kommunaler Unternehmen (VKU).
Reiche ist keine klassische Seiteneinsteigerin. Vor ihrem Wechsel in die Wirtschaft war die CDU-Politikerin parlamentarische Staatssekretärin, erst im Umwelt-, dann im Verkehrsministerium. Doch ihr letztes politisches Amt liegt zehn Jahre zurück. Ein kompletter Neuling im politischen Betrieb ist Karsten Wildberger, der bisherige Vorstandschef der Mediamarkt-Muttergesellschaft Ceconomy. Der erklärte Technikfan soll das neue Digitalministerium leiten, das Union und SPD vereinbart haben.
Politikwechsel, zumindest personell
Nach den wochenlangen Debatten darüber, wie viele ihrer Forderungen die SPD erfolgreich in den Koalitionsvertrag verhandelt hat, wollte CDU-Chef Friedrich Merz mit seiner Kabinettsliste offenbar das Zeichen setzen, dass der versprochene Politikwechsel doch noch möglich sein könnte. Zählt man noch den früheren Verleger und designierten Kulturstaatsminister Wolfram Weimer dazu, sind auf CDU-Seite sogar drei ehemalige Wirtschaftsvertreter im Kabinett vertreten.
Was in der Fraktion und in den Landesverbänden, wo sich manch anderer Hoffnungen auf einen der Posten gemacht hatte, für Grummeln sorgt, wird in der Wirtschaft überwiegend positiv bewertet. „Katherina Reiche ist ein Glücksgriff“, sagt zum Beispiel die Ökonomin Veronika Grimm, Mitglied im Sachverständigenrat. Reiche sei „politisch erfahren, durchsetzungsstark und mit Kompass.“ „Dass sie eine Vergangenheit der Energiewirtschaft hat, dürfte hilfreich sein.“ Grimm traut Reiche aber auch in anderen Feldern der Wirtschaftspolitik etwas zu. „Ich habe sie immer als jemanden erlebt, dem es gelingt, auch sehr unterschiedliche Akteure zusammenzubringen.“
Wohlwollende Worte zur Begrüßung von Reiche kamen auch aus den Wirtschaftsverbänden. „Wir brauchen eine starke Stimme und eine Anwältin für die Wirtschaft“, sagte Tanja Gönner, Hauptgeschäftsführerin des Bundesverbands der deutschen Industrie (BDI). „Dass eine erfahrene Energiemanagerin und Politikerin neue Ministerin für Wirtschaft und Energie wird, ist dafür ein wichtiges Signal.“ Gönner mahnte aber auch an, dass es nicht nur in der Energiepolitik zügig Reformen geben müsse. Ähnlich äußerte sich DIHK-Präsident Peter Adrian. Reiches Erfahrung in der Energiepolitik sei ein „wichtiger Pluspunkt“. Wichtig sei aber auch, die unternehmerische Freiheit allgemein zu stärken und Investitionen zu vereinfachen.
Die Präsidentin des Verbands der Familienunternehmer, Marie-Christine Ostermann, hofft auf „Abwehrkämpfe“ Reiches gegen Kabinettskollegen, „wenn zum Beispiel versucht wird, die unternehmerische Freiheit zum Beispiel beim Mindestlohn einzuschränken. Da muss sie einen geraden Rücken für die Unternehmen machen.“ Als parlamentarische Staatssekretäre ziehen für die CDU Gitta Connemann, derzeit Vorsitzende der Mittelstandsunion, sowie Stefan Rouenhoff ins Wirtschaftsministerium ein. Letzterer hat sich in den vergangenen Jahren unter anderen mit der Handelspolitik beschäftigt.
Kritiker sehen Gefahr von Interessenskonflikten
Der Energiekonzern Eon gratulierte Reiche zu dem Wechsel. Vorstandschef Leonhard Birnbaum lobte sie als „hocherfahrene Managerin, die aus ihrer Tätigkeit als Geschäftsführerin des VKU und als Vorstandsvorsitzende des größten deutschen Verteilnetzbetreibers die Herausforderungen im Energiesektor und in der Wirtschaft exzellent kennt“. Die formalen Schritte zur einvernehmlichen Aufhebung des Vertragsverhältnisses würden in den nächsten Tagen erfolgen. Die Mitglieder des Kabinetts sollen voraussichtlich am 6. Mai vereidigt werden.
Es gibt aber auch kritische Stimmen zu dem Wechsel. In der SPD beschwert man sich – wenn auch nur hinter vorgehaltener Hand – darüber, wie schwer es nun werde, die „Checks and Balances“ zwischen Politik und Wirtschaft zu wahren. Wenn die Wirtschaft sich nun selbst – wirtschaftsfreundlich – regulieren könne, sei das keine gute Entwicklung. Auch der Verein Lobbycontrol sieht die Gefahr von Interessenkonflikten. Reiche, kritisierte eine Sprecherin, werde sich in ihrer neuen Position kaum aus allen Entscheidungen zurückhalten können, die ihren jetzigen Arbeitgeber beträfen.
„Es ist höchst fraglich, ob Reiche die nötige kritische Distanz und Unabhängigkeit zur Energiewirtschaft einhalten kann, um ausgewogen zu entscheiden. Das gilt besonders für die im Koalitionsvertrag angekündigte Reform des Gebäudeenergiegesetzes.“ Auch Karsten Wildberger ist aus Sicht von Lobbycontrol keine gute Besetzung. „Er ist Vizepräsident des mächtigen Lobbyverbands HDE und vertritt damit die Interessen von Konzernen wie Aldi, Lidl und Amazon.“
Ein Technikfreak als Digitalminister
Die in jeder Hinsicht mutigste und überraschendste Entscheidung von Merz ist die Berufung Wildbergers zum neuen Minister für Digitalisierung und Staatsmodernisierung. Den promovierten Physiker aus der Wirtschaft hatte zuvor niemand auf dem Zettel. Der 55 Jahre alte Wildberger führt seit August 2021 die Ceconomy -Gruppe, die vor allem für die Elektronikhandelsketten von Mediamarkt und Saturn bekannt ist. Dem Unternehmen hat Wildberger einen gehörigen Umbau verordnet – einen, wie ihn sich womöglich auch Merz wünscht: Sowohl optisch, was die Filialen angeht, als auch intern, wie in der Organisation gearbeitet wird. Mit etwas mehr als tausend Märkten und einem Umsatz von 22,4 Milliarden Euro im vergangenen Geschäftsjahr ist Ceconomy einer der größten Elektronikanbieter in Europa. Wildberger gilt als derjenige, der die etwas angestaubten Handelsmarken wieder „cool“ gemacht hat.
An einem seiner Finger trägt Wildberger einen Gesundheitsring, der ihm Informationen über seine Schlafqualität liefert, am Handgelenk eine Smartwatch. „Ich liebe Technologie“, sagte Wildberger unlängst. „Ich beschäftige mich sehr viel damit.“ Das gilt für die Hardware genauso wie für die Algorithmen dahinter. Digitalisierung ist sein Steckenpferd. CDU-Mitglied ist Wildberger nicht, er gehört allerdings seit einigen Jahren dem der CDU nahestehenden Wirtschaftsrat an. Bevor der Manager zu Ceconomy kam, war er im Vorstand des Energiekonzerns Eon für das operative Geschäft verantwortlich. In früheren Positionen war er für die Boston Consulting Group und Telekommunikationskonzerne wie Vodafone und T-Mobile tätig.
Dass der Wechsel kein gewöhnlicher ist, zeigt sich auch an der Begleitmusik. Sein Arbeitgeber schickte sogleich eine Pressemitteilung heraus, wie sie bei Ministerernennungen eher ungewöhnlich ist. „CECONOMY-Vorstandsvorsitzender Dr. Karsten Wildberger nimmt verantwortungsvollen Ministerposten im neuen Bundeskabinett an“, war da zu lesen. Organisatorisch ist alles geklärt, sein Vertrag wird vorzeitig aufgelöst. Ab dem 5. Mai, einen Tag vor der Kanzlerwahl, ist er bereit für die neue Aufgabe.
Solch eine ungewöhnliche Personalie sorgt für Lob und Skepsis. Der Verband der Breitbandkommunikation freut sich über den „Fachmann mit hoher Digitalaffinität und Expertise im Telekommunikationssektor“. Dass ein Manager aus der Wirtschaft diese Schlüsselposition übernehme, spreche für Mut und Veränderungswillen der künftigen Bundesregierung. Hinter vorgehaltener Hand gibt in der weit verzweigten Digitalcommunity allerdings auch Zweifel, insbesondere bezüglich der Frage, ob ein Mann ohne Erfahrungen in der öffentlichen Verwaltung ein völlig neues Ministerium aus dem Boden stampfen und die schleppende Verwaltungsdigitalisierung auf die richtige Spur setzen kann.
In diesem Bereich sind gleichermaßen Fingerspitzengefühl und Durchsetzungskraft gefragt. Das aktuelle Digital- und Verkehrsministerium wird zentrale Bereiche an das neue Digitalministerium verlieren, ebenfalls das Innen-, Wirtschafts- und Forschungsministerium. Auch über die föderalen Ebenen hinweg ist Nervenstärke gefragt: Viel Energie und Geld ist in den vergangenen Jahren durch Endlosdiskussionen zwischen Bund, Ländern und Kommunen verloren gegangen. Der Branchenverband Bitkom mahnt denn auch: „Das Digitalministerium kann nur schlagkräftig handeln, wenn es die Federführung für die digitalen Kernthemen erhält und mit den notwendigen Koordinierungsrechten, einem Digitalvorbehalt sowie einem ausreichenden Einzelplan ausgestattet ist.“
Kukies würde gerne bleiben
Manager, die in die Politik gehen, gibt es seltener als Politiker, die in die Wirtschaft gehen. 1998 wollte bereits der SPD-Politiker Gerhard Schröder ein Zeichen für mehr Wirtschaftsexpertise in der Politik setzen. Im Wahlkampf berief er den Computerunternehmer Jost Stollmann als möglichen Wirtschaftsminister in sein Schattenkabinett. Stollmann ging trotz des Wahlsiegs der SPD aber doch nicht ins Kabinett, weil er sich mit dem SPD-Finanzminister Oskar Lafontaine über den Zuschnitt des Wirtschaftsministeriums und die Steuerpolitik überwarf. Stattdessen übernahm der parteilose Werner Müller das Haus, zuvor Manager der Energiekonzerne RWE und Veba. Nach seinem vierjährigen Ausflug in die Politik ging Müller zurück in die Wirtschaft, zur Ruhrkohle AG.
Auf Staatssekretärsebene sorgte 2018 der Wechsel des langjährigen Goldman-Sachs-Managers Jörg Kukies ins Finanzministerium von Olaf Scholz (beide SPD) für Schlagzeilen. Um sich nicht dem Vorwurf von Interessenskonflikten auszusetzen, verkaufte Kukies damals seine Beteiligungen. Später wurde er Wirtschaftsberater von Olaf Scholz im Kanzleramt, seit dem Ampel-Aus ist er Finanzminister. Ginge es nach ihm, würde er das auch gerne bleiben. In Berlin wird jedoch erwartet, dass SPD-Chef Lars Klingbeil nach diesem Posten greifen wird. Am 5. Mai wollen die Sozialdemokraten ihr Personaltableau vorstellen. Auch dort könnte es noch Überraschungen geben.