Neutrinos: “Geisterteilchen” auf der genauesten Waage der Welt

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Stand: 30.04.2025 07:00 Uhr

Wie viel Neutrinos wiegen, ist eines der größten Rätsel der Physik, das die weltweit genaueste Waage der Welt lösen soll. Unzählige dieser kleinen Teilchen durchfliegen die Erde und sind für das Wachstum des Universums entscheidend.

Sie fliegen in unvorstellbar großer Zahl jede Sekunde durch uns hindurch. Allein durch einen Daumennagel fliegen pro Sekunde etwa 60 Milliarden Neutrinos. Die winzigen Neutrinos sind so klein, dass sie fast nie mit anderen Teilchen reagieren.

“Eine der verblüffendsten Eigenschaften ist, dass das Neutrino einfach durch Materie durchfliegen kann, ohne Wechselwirkung mit der bekannten Materie”, sagt Susanne Mertens, Direktorin am Max-Planck-Institut für Kernphysik in Heidelberg. Deshalb werden die Neutrinos auch manchmal “Geisterteilchen” genannt. Gleichzeitig sind sie aber wahrscheinlich die häufigsten Elementarteilchen im Universum.

Lange war unklar, ob solche kleinen Teilchen überhaupt etwas wiegen können – also eine Masse haben. Ein großes Messgerät am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) soll das Rätsel lösen. Der 200 Tonnen schwere und 70 Meter lange Versuchsaufbau gilt als genaueste Waage der Welt. Ein großer Detektor soll die Masse der kleinen Geisterteilchen, der Neutrinos, bestimmen.

Neutrinos als “Geburtshelfer” des Universums

Neutrinos sind im Universum überall, entstehen vor allem in Sternen, also auch in unserer Sonne. Wenn ein Stern stirbt, bringen ihn die Neutrinos, die beim Kollaps des Sterns entstehen, als Supernova zum Platzen. Dadurch verteilen sich dann Elemente, die in den Sternen entstanden sind, im Weltraum. Und diese Elemente sind wichtig.

Durch Kernfusionen entstehen in den Sternen so wichtige Elemente wie Sauerstoff oder Kohlenstoff. Wenn sterbende Sterne platzen, werden die Elemente ins Universum geschossen.

“Alle Elemente, auf denen auch das Leben auf der Erde basiert, werden in solchen Explosionen befördert. Das heißt, die Neutrinos sind auf diese Art und Weise gewissermaßen Geburtshelfer”, sagt Kathrin Valerius vom KIT. Das Universum ist also ohne Neutrinos nur schwer vorstellbar.

Zwischenergebnis: So viel wiegen Neutrinos

Seit 2018 ist das Katrin-Projekt des Karlsruher Instituts für Technologie den Neutrinos auf der Spur. Vorgängerprojekte konnten schon nachweisen, dass Neutrinos überhaupt eine Masse haben. Denn auch das war lange nicht klar.

Die bisherigen Projekte waren zu ungenau, um die Masse der Neutrinos zu bestimmen. Das wollen sie in Karlsruhe ändern. Nach sieben Jahren sollen dieses Jahr die Messungen enden. Schon jetzt konnten sie mit Zwischenergebnissen die Masse der Neutrinos weiter eingrenzen.

Mitte April haben sie ihre neuesten Ergebnisse im Fachmagazin Science veröffentlicht. Danach sind die Neutrinos etwa 500.000-mal leichter als ein Elektron, oder in Gramm ausgedrückt: 0,000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 002 Gramm, also unvorstellbar leicht. Das ist die aktuelle Obergrenze an Masse – wahrscheinlich sind sie sogar deutlich leichter.

Die genaue Masse muss jedoch erst bestimmt werden. Doch es ist noch unklar, ob mit dem Ende der Messreihe in Karlsruhe die endgültige Masse feststeht. Vielleicht werden erst noch größere und genauere Experimente die genaue Masse der Neutrinos bestimmen können.

Warum die Waage 8.000 Kilometer reisen musste

Das Karlsruher Experiment ist weltweit einmalig. Lange wurde geplant, 2016 musste die Waage dann aufwendig von Bayern nach Karlsruhe transportiert werden. Und zwar nicht über die Straße – dafür waren die Teile zu groß.

Stattdessen wurde das Messgerät über einen 8.000 Kilometer langen Umweg über Wasserwege, das Schwarze Meer und später über den Rhein, transportiert. Kurz vor dem Campus des KIT hat das Messgerät gerade so durch die Straßen gepasst, mit nur wenig Abstand zu den Häusern.

60 Millionen Euro hat der Bau gekostet, der Nachschub von schwerem Wasserstoff für das Experiment kostete weitere Hundertausende Euro.

Wie die Neutrinos gemessen werden

Die Waage ist ein großes Messgerät. Weil die Neutrinos so winzig sind und fast nie mit anderen Teilchen reagieren, sind sie so schwer nachzuweisen. In Karlsruhe stellen sie deshalb gezielt Neutrinos her, messen deren Masse aber nicht direkt, sondern indem ein anderes Teilchen, das mit den Neutrinos zusammen entsteht, vermessen wird. Dazu lassen die Forschenden Tritium, also schweren Wasserstoff, zerfallen. Dabei entstehen immer ein Neutrino und ein Elektron. Die freiwerdende Energie verteilt sich auf beide Teilchen.

Das Forschungsteam misst dann die Energie der Elektronen und kann daraus die Masse der Neutrinos ablesen, also das Gewicht der kleinen Geisterteilchen bestimmen.

Die Messungen wiederholen sie Tausende Mal über Jahre. Schon jetzt zeigen aber Zwischenergebnisse, wie leicht die kleinsten Teilchen in etwa sind. Eine Zahl mit 33 Stellen nach dem Komma – unvorstellbar leicht, aber eine wichtige Zahl für Physiker weltweit. Und ein Schlüssel für wichtige Fragen der Teilchenphysik, aber auch für große Fragen – etwa, wie sich unser Universum immer weiter ausdehnt und wächst.

Kernfusion-Start-ups schauen auf das Neutrino-Experiment

Als Grundlagenforschung war das Neutrino-Projekt lange eher ein Thema für die Forschungswelt. Doch seit zwei Jahren interessiert sich auch die Industrie für das dazugehörige Tritium-Labor. Vor allem Start-ups aus der Kernfusionsforschung melden sich beim KIT.

“Wir können uns vor Anfragen nicht retten”, sagt Magnus Schlösser, Leiter des Tritiumlabors am Karlsruher Institut für Technologie. Die Unternehmen interessieren sich für das Forschungslabor, weil sie hier viel Erfahrung mit Tritium, dem schweren radioaktiven Wasserstoffisotop, haben.

Tritium könnte in Zukunft ein wichtiger Brennstoff für Kernfusionsreaktoren sein. Viele Unternehmen wollen deshalb von der Erfahrung in Karlsruhe mit dem Tritium profitieren.

Neues Experiment sucht nach dunkler Materie

Das Forschungsteam arbeitet aber auch schon an einem neuen Projekt – die Suche nach Teilchen, von denen bisher keiner weiß, ob sie überhaupt existieren. Sie sollen nur der Schwerkraft folgen und nie mit anderer Materie reagieren. Diese “sterilen Neutrinos” sind Kandidaten für die sogenannte “Dunkle Materie”, von der die Physiker wissen, dass es sie geben muss, um alle Phänomene um Universum erklären zu können – von der sie aber nicht wissen, woraus sie überhaupt besteht.