„Wir sind ein beschädigtes Land“

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Herr Ministerpräsident, wann haben Sie zuletzt eine Einladung in eine Talkshow abgesagt?

(Rhein dreht sich zum Regierungssprecher um.) Das war in der vergangenen Woche.

Wieso gehen Sie nicht in Talkshows?

Wenn ich spätabends als Zuschauer in eine Talkshow gerate, schalte ich nach ein paar Minuten weg. Die oft gleiche Dramaturgie langweilt mich schnell. Ich will niemandem zu nahe treten, der an solchen Runden teilnimmt oder sich Talkshows gerne anschaut, aber für mich ist der Erkenntnisgewinn gering. In Hessen haben wir 2023 gezeigt, dass man auch ohne Talkshows eine Landtagswahl gewinnen kann. Mich interessieren die konkreten Erwartungen und Anliegen der Bürgerinnen und Bürger, und die hört man auf den Marktplätzen und Festen, nicht in Fernsehstudios und Talkshows.

Schwingt bei Ihnen auch ein Misstrauen gegen die Berliner Politik mit?

Ich bin in Hessen und für Hessen gewählt. Die Interessen meines Landes vertrete ich aber natürlich auch in Berlin.

In der Wahrnehmung spielen Ministerpräsidenten heute eine geringere Rolle als noch vor 20 Jahren, als man Ihren Vorgänger Roland Koch praktisch zu jeder Frage ständig vernahm.

Meine Wahrnehmung ist eine andere. De facto ist der Einfluss der Länder so groß wie noch nie. Als die Ampelregierung in den vergangenen Jahren permanent versagt hat, waren die Länder der Stabilitätsanker für Deutschland. In der Migrationspolitik haben wir über die Ministerpräsidentenkonferenz die Bundesregierung zu einem Kurswechsel getrieben. Denken Sie nur an die Binnengrenzkontrollen, die Asylverfahren in Drittstaaten und die Ausweitung der Zahl sicherer Herkunftsstaaten. Die hessische Landesregierung hat einen Gesetzentwurf zur digitalen Spurensicherung vorgelegt. Unser Vorschlag zur Speicherung von IP-Adressen hat eine Mehrheit im Bundesrat bekommen und wurde gerade in erster Lesung im Bundestag beraten. Das ermöglicht hoffentlich endlich eine bessere Verfolgung von Kinderschändern im Netz. Die Beispiele zeigen, wie stark die Länder die Bundespolitik prägen.

Unter Bundespolitikern gibt es teilweise eine gewisse Geringschätzung für die Länder. Woran liegt das?

Fehlende Erfahrung oder mangelnde Kenntnis. Oft sind es Leute, die nie eine Kommune oder ein Land regiert haben.

Auf den Unionskanzlerkandidaten Friedrich Merz trifft das auch zu. Geben Sie ihm Ratschläge in Sachen Föderalismus?

Friedrich Merz hat sehr viel Erfahrung und braucht von mir keine Ratschläge. Bund und Länder müssen vernünftig zusammenarbeiten, aber klar muss auch sein: Die Länder bilden den Bund. Der Bund kann die Außen- und Sicherheitspolitik bestimmen. Aber in den Ländern wird die Wirtschaftskraft Deutschlands erarbeitet, die innere Sicherheit gestaltet, die Bildung organisiert und vieles mehr. Darauf müssen wir den Bund hin und wieder hinweisen.

Gleichwohl sind die politischen Spielräume in den Ländern kleiner geworden. Sie haben mit dem Hessengeld eine Förderung für das erste Eigenheim eingeführt, die selbst ein wohlhabendes Land wie Ihres an Haushaltsgrenzen führt.

Das Hessengeld führt uns nicht an unsere Grenzen, sondern hilft ganz normalen Familien, sich den Traum von der ersten eigenen Wohnung oder dem ersten eigenen Haus zu erfüllen. Es ist die schlechte Wirtschaftspolitik der Ampel, die uns Länder viele Milliarden Euro an Steuereinnahmen kostet. Wer auch immer die nächste Bundesregierung führt, muss die Bund-Länder-Finanzbeziehungen vollständig neu ordnen. Es ist nicht länger akzeptabel, dass sich der Bund ständig Programme überlegt und Gesetze beschließt, die die Länder ausführen und mitfinanzieren sollen. Ein Beispiel: das Wohngeld. Das ist sinnvoll, weil es passgenau den Richtigen hilft. Aber die Bundesregierung hat einfach entschieden, dass mehr Empfänger mehr Geld bekommen sollen. Und die Länder müssen das jetzt mitzahlen. Unmöglich. Für jede Aufgabe, die uns der Bund überträgt, muss er uns künftig auch das Geld zur Verfügung stellen.

Der CSU-Vorsitzende und bayerische Ministerpräsident Markus Söder hat angekündigt, gegen eine Koalition der Union mit den Grünen ein Veto einzulegen. Werden Sie das auch tun?

Lassen Sie uns doch erst mal den Wahlabend abwarten. Demokraten müssen immer über Koalitionen miteinander reden können. Wir kämpfen für eine bürgerliche Mehrheit mit möglichst viel Union pur.

Söder hat vor dem Wahlabend auch schon zwei Ministerien für die CSU reklamiert. Wie viel Hessen wird denn im nächsten Bundeskabinett sitzen?

Erst müssen wir die Wahl gewinnen, dann können wir uns über Ressorts unterhalten.

Hessische Bescheidenheit gegen bayerischen Hochmut?

Hessen zählt zu den stärksten Ländern in Deutschland. In Hessen gilt immer: mehr Sein als Schein.

Markus Söder und Sie wettern beide oft gegen die Grünen. Wie müsste sich die Partei insgesamt verändern, um mit CDU/CSU koalieren zu können?

Die Grünen müssten sich komplett verändern. Für mich ist es ein Rätsel, wieso die Partei ausgerechnet Robert Habeck zum Spitzenkandidaten gewählt hat. Der hat als Wirtschaftsminister dieses Land gemeinsam mit den Ampel-Kollegen auf eine beispiellose Talfahrt geschickt. 2021 hatten wir mehr als drei Prozent Wirtschaftswachstum, mittlerweile leiden wir seit zwei Jahren unter einer Rezession. Das ist Habecks Bilanz.

Boris Rhein während des Gesprächs in der Hessischen Staatskanzlei in Wiesbaden
Boris Rhein während des Gesprächs in der Hessischen Staatskanzlei in WiesbadenFrank Röth

Der Angriffskrieg auf die Ukraine und die Energiekrise fielen auch in diese Zeit.

Stimmt, reicht aber als Erklärung nicht aus. Denn die meisten Länder in Europa haben trotzdem Wachstum. Kein anderes Industrieland hat so eine Wachstumsschwäche wie wir. Deutschland ist Schlusslicht in der Welt. Unsere Misere ist also hausgemacht. Ich erinnere mich übrigens noch gut an Grüne, die schon weit vor dem Angriff des Kriegsverbrechers Putin auf die Ukraine von Deindustrialisierung fabuliert haben. Fatal. Denn die Industrie ist entscheidend, wenn wir Wohlstand, Arbeitsplätze und soziale Sicherheit bewahren wollen.

Wir brauchen nach der Bundestagswahl schnellstmöglich ein Sofortprogramm. Um aus der Wirtschaftskrise zu kommen, müssen wir die überbordende Bürokratie abbauen, die Strompreise dauerhaft auf das europäische Mindestmaß senken und die hohen Unternehmenssteuern senken. Wir brauchen Technologieoffenheit. Das heißt: Wasserstoff und Kernfusion fördern. Auch den Wiedereinstieg in die Atomkraft müssen wir prüfen. Um aus der Gerechtigkeitskrise zu kommen, muss das Bürgergeld reformiert werden, um aus der Sicherheitskrise zu kommen, müssen wir auch die Migrationskrise lösen. Und wir brauchen die Schuldenbremse. Wer das alles unterschreibt, ist ein Koalitionspartner für die Union.

Damit hätten Sie auch die SPD ausgeschlossen, die unbedingt von der Schuldenbremse abweichen will.

Mal sehen, was die SPD nach der Wahl sagt.

Ihr Parteivorsitzender Merz hat sich zuletzt offen gezeigt für Änderungen an der Schuldenbremse. Können Sie der Idee nicht auch etwas abgewinnen?

Friedrich Merz ist genauso wie ich ein Anhänger der Schuldenbremse. Schon in ihrer heutigen Form ermöglicht sie uns Spielraum für höhere Schulden, wenn die Konjunktur schwächelt.

Sie wollen also definitiv keine Änderung der Schuldenbremse?

Nein. Ich bin dagegen, an der Schuldenbremse herumzubasteln.

Sie wollen dennoch mit dem Daseinsvorsorgefonds in Hessen am Kernhaushalt vorbei Geld ausgeben.

Wir prüfen einen solchen Fonds rechtlich. Es geht uns darum, die Kommunen besser bei Investitionen in Kitas und Energieversorgung zu unterstützen, zum Beispiel mit zinsgünstigen Darlehen, die am Markt aufgenommen werden. Das wird kein Sondervermögen am Haushalt vorbei.

Wenn schon nicht die Finanzpolitik: Was könnte für eine große Koalition nach der Wahl sprechen?

Sozialdemokraten und Christdemokraten haben viele Gemeinsamkeiten. Wir sind beides Volksparteien, die tief verwurzelt sind in den Städten und Gemeinden und die von ihren Mitgliedern vor Ort getragen werden. Das erdet und lässt uns besser verstehen, was die Menschen wirklich umtreibt. Für mich war das auch ein Grund, mit den Sozialdemokraten in Hessen zu koalieren. Wir nennen das Renaissance der Realpolitik.

Im Feld der Ukraine-Politik trennt Union und SPD einiges. Können Sie sich einen Kompromiss vorstellen?

Das Zögern und Mäandern der Ampelkoalition in vielen Fragen der Ukraine-Hilfe hat großen Schaden angerichtet. Die Position der Union ist klar: Wir unterstützen die Ukraine mit allem, was sie braucht, damit sie diesen Krieg gewinnen kann. Klar ist doch: Wenn Putin nicht gestoppt wird, gibt es nicht weniger Krieg in Europa, sondern mehr. Ich glaube, eine Mehrheit in der SPD sieht das genauso.

Den Grünen sind Sie bei dem Thema näher, richtig?

Wenn man die Bedeutung, die Sie dem Krieg geben, zugrunde legt: Sollte sich die Suche nach dem richtigen Koalitionspartner nicht zuallererst an der Ukra­ine-Politik orientieren?

Im Augenblick sind die außenpolitischen Fragen von besonderer Bedeutung, weil es um Krieg und Frieden und um unsere Freiheit in Europa geht. Die innenpolitischen Fragen sind aber genauso wichtig. Wir sind nach drei Jahren Ampel ein beschädigtes Land. Die Menschen haben das Gefühl, dass Deutschland abgehängt wird. Damit muss Schluss sein. Deutschland kann mehr. Viel mehr.