Regierungsbildung: Klassenkampf mit dem „Lobbyisten-Kabinett“

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CDU-Chef Friedrich Merz hat etwas Ungewöhnliches getan. Er hat bei der Besetzung seiner Ministerposten nicht nur den üblichen Proporz aus Vertretern der Landesverbände und der Fraktion außer Acht gelassen. Mit der Berufung von drei Köpfen aus der Wirtschaft hat er auch das Signal ausgesendet, dass er deren Erfahrungen für wertvoller hält als eine klassische Parteikarriere. Die Kritik folgte prompt. Der Sozialflügel, der bei der Postenverteilung leer ausging, sieht den Ruf der CDU bestätigt, „kaltherzig und unsozial“ zu sein. Von grün-linker Seite ist gar von einem „Lobbyisten-Kabinett“ die Rede. Wer sich gegen diese Kritik stellt, wird ebenfalls kritisiert.

Die Debatte erinnert an alte Klassenkampf-Zeiten: Die Arbeitnehmer sind die Guten, die Arbeitgeber die Bösen. Die da unten gegen die da oben. Auslöser sind diese drei Personalentscheidungen: Die Eon-Managerin Katherina Reiche wird Wirtschaftsministerin, der Mediamarkt-Chef Karsten Wildberger Digitalminister und der Verleger Wolfram Weimer Kulturstaatsminister.

Vor allem den jetzt wieder in der Opposition agierenden Grünen gefällt das gar nicht. Es gehe Merz darum, seine „alten Ideologien“ ins Kabinett zu tragen, kritisierte Fraktionsvize Andreas Audretsch gegenüber Welt TV. Reiche sieht er als „Gaslobbyistin“, Weimer als personifizierten „Kulturkampf“. Der Ko-Sprecher der Grünen Jugend Jakob Blasel zieht auf der Plattform X Parallelen zu Amerika: „Wenn Merz das mit seinem Lobby-Kabinett durchzieht, müssen wir uns bald überlegen, wie eine Fight-Oligarchy-Tour in Deutschland aussehen könnte.“

Ungewollt zwischen den Fronten

Die Linken-Chefin Ines Schwerdtner bezeichnet die Ministerliste der Union als „Sammelbecken von Wald-und-Wiesen-Politikern und abgehalfterten Managern und Lobbyistinnen“. Die Tierschutzorganisation Peta hält es für einen „Affront gegen den Tierschutz“, dass der designierte Landwirtschaftsminister Alois Rainer (CSU) ein „praktizierender Metzger“ ist. Auch in den Reihen der SPD gibt es „Lobby“-Vorwürfe, wenn auch hinter vorgehaltener Hand.

Einer, der ungewollt zwischen die Fronten geriet, ist Marcel Fratzscher. Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) ist ein Ökonom, der inhaltlich oft auf einer Linie mit SPD und Grünen liegt. Umso größer war dort das Erstaunen, als sich Fratzscher am Montag wohlwollend über die Personalentscheidungen von Merz äußerte. „Es ist mutig und gut, dass Friedrich Merz bei der Besetzung der Ministerien der Kompetenz eine größere Rolle als der politischen Macht einräumt“, schrieb Fratzscher auf X.

Es folgte das, was man gemeinhin einen Shitstorm nennt. Fratzscher wurde belehrt, die künftige Wirtschaftsministerin komme aus der „Lobbyhölle“. Ob er jetzt auf die Arbeitgeberseite gewechselt sei, wurde er gefragt. Telefoniert man mit Fratzscher zu diesen Reaktionen, erlebt man einen nachdenklichen Ökonomen. „Ich hätte nicht gedacht, dass mein Tweet so eine Aufmerksamkeit generiert“, sagt er. „Es gibt in Deutschland offenbar noch sehr viele Scheuklappen.“ Er selbst findet es nach wie vor „super“, dass Merz drei Manager aus der Wirtschaft für Ministerposten nominiert hat. „Wir bräuchten viel mehr solcher Wechsel“, sagt Fratzscher. „Das erhöht die Kompetenz im Kabinett.“ Er verspricht sich von den Erfahrungen der Praktiker sinnvolle Reformen.

Besonders Merz polarisiert

Die verbreitete Kritik an den von Merz ausgewählten Wirtschaftsvertretern hält Fratzscher für ein sehr deutsches Phänomen. „Die verbreitete Wahrnehmung hier ist, dass Politiker isoliert sein müssen. Das hat viel mehr mit der Rolle des Beamtentums zu tun: Nur als treuer Staatsdiener ist man unabhängig“, beschreibt er die Stimmung. Mehr als die drei Seitenwechsler polarisiert aus seiner Sicht die Personalie Friedrich Merz selbst. „Seine Zeit bei Blackrock hat der Reputation von Merz nicht gutgetan. In Deutschland schwingt da mit: Der ist gierig, der will Geld verdienen. Die Wirtschaft wird von vielen eher kritisch gesehen, speziell die Finanzbranche.“

In den Vereinigten Staaten sei das anders. „Viele fähige Finanzminister kamen dort aus der Finanzbranche.“ Fratzscher verweist unter anderem auf Robert Rubin, der in den Neunzigerjahren unter Bill Clinton amerikanischer Finanzminister war. Rubin kam von der Investmentbank Goldman Sachs. Er war nicht der erste und auch nicht der letzte dieser „Goldmänner“ in der Politik. „In den USA haben solche Wechsel einen positiven Ruf“, sagt Fratzscher. „Bei uns geht immer schnell die Heuschrecken-Debatte los.“

Ausgelöst hatte selbige 2004 der damalige SPD-Vorsitzende Franz Müntefering, der zwischen verantwortungsvollen Unternehmen und „verantwortungslosen Heuschreckenschwärmen, die im Vierteljahrestakt Erfolg messen, Substanz absaugen und Unternehmen kaputtgehen lassen“ unterschied. Es war die Zeit, als Deutschland schon einmal in einer tiefen Wirtschaftskrise steckte und der SPD-Kanzler Gerhard Schröder Reformen im Sinne der Unternehmen durchsetzte. Auch in der Finanzkrise und nach dem Aufdecken des Dieselskandals wurde in Deutschland viel darüber diskutiert, wie verantwortungsvoll oder nicht sich Manager verhalten.

Als Olaf Scholz (SPD) im Jahr 2018 den Investmentbanker Jörg Kukies als Staatssekretär ins Finanzministerium holte, geschah dies weitgehend geräuschlos. Vielleicht, weil die Staatssekretärsebene weniger beachtet wird als die der Minister, vielleicht aber auch, weil Kukies in jungen Jahren mal Juso war. Mehr öffentlicher Unmut regte sich, als Robert Habeck nach seinem Amtsantritt als Wirtschaftsminister etliche Schlüsselpositionen mit Vertrauten aus der Parteizentrale der Grünen oder Grünen nahestehenden Thinktanks besetzte, was unter anderem zum umstrittenen Heizungsgesetz führte. Diese Art von Lobbyismus stieß bei den Grünen nicht auf Kritik, man sah sich vielmehr als Vorkämpfer einer guten Sache.

Auf die Frage, ob die Grünen-Spitze die Lobbyismus-Kritik von Audretsch und Blasel teilt, kommt aus der Parteizentrale eine ausweichende Antwort. „Erfahrung aus der Wirtschaft kann zum Gewinn aller werden, wenn Interessenkonflikte dies nicht verhindern“, sagt die Ko-Vorsitzende Franziska Brantner. Man werde die Regierung daran messen, ob die „vollmundigen Ankündigungen“ eingehalten würden. „Wenn Merz seine Versprechen ernst meint, dann muss Herr Wildberger Deutschland bei Digitalisierung und Staatsmodernisierung an die Weltspitze führen – und Frau Reiche das deutsche Wirtschaftswachstum deutlich ins Positive führen.“ Am Geld werde es nicht scheitern, fügt Brantner mit Blick auf die gelockerte Schuldenbremse hinzu. Eine Spitze in Richtung der CDU kann auch sie sich nicht verkneifen: „Jens Spahn hat selbst gesagt: Gibt es Wachstum, Investitionen und Zuversicht nicht sehr zügig, hat diese Regierung es einfach nicht gekonnt.“