Cem Özdemir im Interview über Zuwanderung und seine Zukunft

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Herr Özdemir, nach mehr als zwanzig Jahren in der Bundespolitik verlassen Sie die Hauptstadt, um in Baden-Württemberg als Ministerpräsident zu kandidieren. Wie groß ist der Abschiedsschmerz von Berlin?

Abschiedsschmerz verspüre ich keinen. Vielmehr: Vorfreude auf das, was kommt, und Dankbarkeit für das, was war. Das war mir ja nicht in die Wiege gelegt als Abgeordneter, als Grünen-Vorsitzender, dann als Minister und zum Schluss sogar als Doppelminister für das Land zu arbeiten. Bedeutend ist für mich besonders das, was mir parteiübergreifend gelungen ist. Ich denke da beispielsweise an das erfolgreiche Ringen im Bundestag um die Armenien-Resolution. Dass der Deutsche Bundestag die Verbrechen an diesem christlichen Volk zum Völkermord erklärt hat, war historisch bedeutsam. Jetzt wartet eine neue, große Aufgabe.

Sie haben erlebt, wie aus der Bonner die Berliner Republik wurde. Wie hat sich das auf Ihr politisches Leben ausgewirkt?

Das war erst mal biographisch ein Einschnitt. Ich habe eine Familie gegründet. Zwei Kinder großgezogen. Das hat die Prioritäten verändert. Ich habe zum Beispiel bewusst entschieden, dass ich die wenige freie Zeit mit der Familie verbringe und nicht noch die Abende ständig unterwegs bin oder in der Parlamentarischen Gesellschaft (dem Club der Abgeordneten am Reichstagsgebäude, d. Red.) verbringe, bis man mich rausträgt.

So wie manche in Berlin …

Die Gefahr, dass man zu sehr unter sich bleibt, ist in diesem Job einfach da. Mir hat geholfen, dass ich nicht in einer Bubble groß geworden bin. Da meine Eltern tagsüber in der Fabrik arbeiten waren, bin ich als Kind mit der ganzen Vielfalt der schwäbischen Kleinstadt aufgewachsen. Ich hab versucht, mir das zu erhalten: Der beste Realitätscheck als junger Abgeordneter war immer, wenn ich mich eine Weile in die Stube bei meiner Mutter in der Änderungsschneiderei gesetzt habe. Da gingen, ich sag’s mal in Anführungszeichen, ganz „normale“ Leute aus und ein, die man nicht mit politischen Plattitüden abspeisen konnte.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.


Und was hat sich politisch in den Berliner Jahren besonders verändert?

Es ist hektischer, aufgeregter, schneller geworden. Die größte dramatische Veränderung ist aus meiner Sicht das Aufkommen der AfD. Früher, bei Republikanern, DVU oder NPD, schwand der Erfolg, wenn sie sich radikalisierten. Bei der AfD ist es andersherum: Sie wird immer radikaler, immer größer. Und wer hofft, dass sie sich jetzt mäßigen werde, wie der Parteivorsitzende neuerdings behauptet, dem sage ich: Täusche dich nicht. Das ist ein Köder an den künftigen Unions-Fraktionsvorsitzenden Jens Spahn und einen Teil der CDU. Ich halte das für eine kolossale Fehleinschätzung.

Ich saß drei Jahre auf der Regierungsbank und hab diesen Brüll- und Schmährufe-Chor aus nächster Nähe erlebt – und jetzt ist er doppelt so groß. Das verändert die Debattenkultur: Es führt zu einer schleichenden Normalisierung des Vulgären, des Enthemmten. Jedes Regierungshandeln muss sich dem Ziel unterordnen, die Republik und die rechtsstaatlichen Prinzipien stabil zu halten. Wir müssen gemeinsam beweisen: Demokraten können liefern und die Probleme lösen. Wir sind nach außen und innen in einer harten Auseinandersetzung gegen jene, die versuchen, die liberale Demokratie zu zersetzen.

Özdemir in den Räumen des Bildungsministeriums
Özdemir in den Räumen des BildungsministeriumsJens Gyarmaty

Hat der Berliner Politikbetrieb zu der Entfremdung vieler von der Demokratie beigetragen, die sich ja in der AfD-Wahl äußert? Vor 20 Jahren hieß es, man verlasse das Raumschiff Bonn, die selbstgenügsame Beschaulichkeit am Rhein.

Ich erinnere mich lebendig an ein Streitgespräch in einer Talkshow mit Wolfgang Schäuble. Nur er und ich. Alle erwarteten, dass wir uns richtig zofften. Nur, es war eher Gespräch als Streit, weil wir zugehört, uns aufeinander bezogen und gelegentlich dem anderen recht gegeben haben. Im Nachgang gab es Zuschriften, wie wohltuend das empfunden wurde. Das Problem ist: Medial funktionieren Zuspitzung und Polarisierung viel besser als leise und sachliche Töne. Und die Mechanismen der Parteien belohnen oft die reine Lehre. Da haben es alle, die auf Kompromiss und Ausgleich setzen, nicht leicht.

Ich bin überzeugt, dass jede Partei die eigenen Standpunkte immer wieder kritisch prüfen muss. Im Streit entsteht gelegentlich was Neues. Als ich 2014 für Waffenlieferungen an die Kurden war, um die Jesiden gegen den „Islamischen Staat“ zu verteidigen, hat das bei den Grünen viele aufgeregt. Man könne sich dem IS nicht mit der Yoga-Matte unterm Arm entgegenstellen, habe ich gesagt. In aller schwäbischen Bescheidenheit: Diese Diskussion hat auch den Weg geebnet für die klare Unterstützung der Grünen in der Ukrainefrage. Man kann nicht Menschenrechtspartei sein und dann, wenn eine bedrohte Bevölkerung wie Anfang der Neunzigerjahre in Bosnien-Hercegovina vertrieben, verfolgt und ermordet wird, sagen: Verhandelt doch, wir wünschen euch alles Gute.

Im Vorraum von Özdemirs Ministerbüro: der Planet Erde
Im Vorraum von Özdemirs Ministerbüro: der Planet ErdeJens Gyarmaty

In anderen Fragen sind die Grünen weniger anpassungsfähig an die Wirklichkeit, die Migrationspolitik ist ein Beispiel.

Da haben wir manches auf dem harten Weg gelernt. Das gilt an der Stelle im Übrigen für alle demokratischen Kräfte. Integration ist eine Mammutaufgabe. An erster Stelle für die, die zu uns kommen. Bei den Gastarbeitern war Arbeit der Zweck des Aufenthalts, Integration fand an der Werkbank statt, immerhin. Aber dass es da nicht aufhört, man auch Sprachkurse braucht, den Weg ins Bildungssystem ebnen und die gesellschaftlichen Regeln einfordern muss, das haben wir lange nicht ausreichend bedacht.

Wir haben auch unterschätzt, wie sehr Zuwanderung eine Zumutung ist, für die, die schon da sind. Welche Fragen und Ängste das auslöst, die wir ernst nehmen müssen. Und dass weder der Wohnungsmarkt noch unsere Schulen wirklich dafür vorbereitet waren. Die Zeche zahlen unsere Kommunen. Das zu wenig beachtet zu haben, ist nicht nur ein Versäumnis der Grünen. Das haben wir schon gemeinsam verbockt, das müssen wir jetzt zurückkämpfen. Sonst wird sich die Mehrheit irgendwann gegen jede Art von Zuwanderung stellen, die wir ja in geregelter Form dringend brauchen.

Nochmals zurück zum Leben in Berlin. Sie wohnen in Kreuzberg, berüchtigt einerseits, aber auch Ort von Träumen, und Sie arbeiten in der neuen Mitte des Regierungsviertels …

Ja, als ich heute mit dem Fahrrad kam, bin ich durch mehrere Phasen Berliner Baugeschichte geradelt. Übrigens immer mit Helm (lacht). Wo ich bisher wohne, erlebe ich manches wie im Brennglas: eine im Vergleich zum Durchschnitt höhere Kriminalitätsrate, gelegentlich Konflikte beim Zusammenleben von Deutschen und Migranten und auch von Migranten untereinander, aber auch zwischen Radfahrern und Autofahrern. Und in Berlin-Mitte zeigt sich dann das Regierungsviertel als die Visitenkarte Deutschlands, wo es so ist, wie sich die Hauptstadt gerne im Ausland präsentiert. Das ist spannend.

Als ich Minister wurde, haben mir Sicherheitsbehörden einen Umzug ins ruhige Dahlem nahegelegt, weg aus Kreuzberg. Zumal es insbesondere nach der Armenien-Resolution eine erhöhte Bedrohungslage für mich gab. Damals musste ich mir bei jedem Verlassen der Wohnung genau überlegen, wohin ich abbiege. Ich habe auch Nachbarn gefragt, ob sie zum Einkaufen mitkommen, damit jemand dabei ist, der notfalls die Polizei rufen kann.

Bei einer Taxifahrt hat ein Fahrer, als er mich als seinen Fahrgast erkannte, mehrfach heftig beschleunigt und dann scharf gebremst und wieder Vollgas gegeben. Die Kinder saßen hinten und hatten Angst. Die Empfehlung danach war: Meiden Sie Taxis. Das war für mich ein Punkt, an dem ich dachte: Jetzt reicht’s. Weichen kann nicht die Lösung sein. Wenn es Fälle öffentlicher Gewalt und Verrohung gibt, dann müssen die geahndet werden. Ich habe aber auch das Gegenteil erlebt: In Stuttgart hat ein Taxifahrer zu mir gesagt, wenn Ihnen so was mal hier passiert, dann sagen Sie es uns, da kümmern wir uns um den. Da habe ihm gesagt: Das ist nicht nötig, dafür haben wir ja den Rechtsstaat.

Ab nach „The Land“: Özdemirs Schreibtisch in Berlin
Ab nach „The Land“: Özdemirs Schreibtisch in BerlinJens Gyarmaty

Was nehmen Sie von der politischen Kultur mit nach Stuttgart, und was lassen Sie gerne zurück in Berlin?

Ein Leitsatz für mich stammt von dem Philosophen Hans-Georg Gadamer: Ein Gespräch setzt voraus, dass der andere recht haben könnte. Das ist ein Hammersatz, der sich leicht sagt, aber nach dem es sich in der Praxis nicht leicht lebt. Und eine zweite wertvolle Richtschnur kann man sich bei Platon abschauen: Die Aufgabe von Politik ist es, zu zeigen, wie das Bestmögliche aussieht, nicht das Ideale. Der Mensch ist nur unter den Bedingungen der Notwendigkeit frei.

Klingt nach Winfried Kretschmann.

Ja, aber ohne Hannah Arendt, die habe ich erst später zusammen mit Kretsch­mann entdeckt. Aber ich teile Arendts Satz, dass das Vertrauen auf die Menschen eine Grundvoraussetzung für unser Handeln ist. Es fängt damit an, gute Leute in Ministerien nicht von ihren Positionen zu nehmen, nur weil sie möglicherweise ein anderes Parteibuch haben.

Will Ministerpräsident in Baden-Württemberg werden: Cem Özdemir
Will Ministerpräsident in Baden-Württemberg werden: Cem ÖzdemirJens Gyarmaty

So wie es manche Ihrer grünen Kollegen in anderen Ministerien mit den Spitzenbeamten gemacht haben.

Ich sage nur: Man kann es eben anders machen. Und das heißt, auch Leute um sich zu haben, die Dinge anders sehen. Politik hat auch etwas mit respektvollem Umgang und Sprache zu tun. Mit Zuhören. Das ist uns im Berliner Politikbetrieb zuweilen abhandengekommen, das müssen wir wieder lernen. Wenn Sie mich fragen: Hast du das immer schon so gesehen und danach gehandelt, müsste ich allerdings wahrheitsgemäß Nein sagen. Da habe ich auch dazugelernt in den zwei Jahrzehnten hier in Berlin.

Wie war’s in der Ampelkoalition, da scheint das ja alles nicht geklappt zu haben.

Am Anfang schon, ein Beispiel: Ich habe das Wirtschaftskapitel verhandelt, und das war ein Geben und Nehmen auf Augenhöhe zwischen Grünen, SPD und FDP. Ich habe deren inhaltliche Punkte mitgedacht und die meine. So gelingt es: Den Erfolg des anderen mitdenken. Und sich den Erfolg gegenseitig auch gönnen.

Das Modell Özdemir hat da aber keine Schule gemacht.

Leider. Nach jeder verlorenen Wahl haben wir es uns in die Hand versprochen, einen Tag später war’s dann schon wieder vorbei. Ich sag’s mal so: Nicht bei allen war der Wille vorhanden, gemeinsam was voranzubringen.

Die letzten Tage im Büro: Özdemir am Schreibtisch
Die letzten Tage im Büro: Özdemir am SchreibtischJens Gyarmaty

Nun also Stuttgart. Ein Grüner hat mal gesagt, er säße lieber in Berlin-Moabit im Knast als im Stuttgarter Landtag auf der Oppositionsbank. Gehen Sie trotzdem in den Landtag, wenn Sie nicht Ministerpräsident werden?

Ich hab ein Ticket ohne Rückfahrschein gebucht. Ich kandidiere für den Landtag, denn ich bin überzeugter Parlamentarier, und ich trete an mit dem Ziel, Ministerpräsident zu werden. Dafür werde ich alles reinwerfen. Bis zum 8. März 2026 fließt noch viel Wasser den Neckar runter.