Die Mitglieder der SPD haben durch das Votum für den Koalitionsvertrag ihrer Partei eine Tür zur Wirklichkeit geöffnet. Sie haben einen Text gebilligt, der verlangt, Deutschlands Wehrausgaben „stringent“ zu steigern und die Hilfe für die Ukraine „substanziell“ zu stärken. Der pazifistische Impuls der Partei ist ein Stück weit ernster Verteidigungsbereitschaft gewichen.
Dieser Impuls hat die SPD oft auf die helle Seite der Geschichte geführt. Die Kritik am Militarismus des Kaiserreiches und seiner mörderischen Kolonialpolitik war ebenso richtig wie der Protest gegen Amerikas Kriege in Vietnam und im Irak.
Oft lag der pazifistische Flügel aber auch falsch. 1955 bekämpfte er den Beitritt Westdeutschlands zur NATO, und 1982 ließ er den SPD-Kanzler Schmidt fallen, als der auf Moskaus Atomrüstung mit Nachrüstung reagierte. Nach dem ersten russischen Einmarsch in der Ukraine warnte Außenminister Steinmeier vor „Kriegsgeheul“ statt vor Putin, und nach dem zweiten Einmarsch dosierte Bundeskanzler Scholz die Ukraine-Hilfe stets so, dass es zum Sterben zu viel war, aber zum Leben zu wenig.
Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
Andererseits haben Sozialdemokraten manchmal zur rechten Zeit auf Stärke gesetzt. Unter Brandt und Schmidt verbanden sie Entspannung mit Härte, und 1999, als die NATO Serbiens ethnische Säuberungen im Kosovo stoppte, schickte der SPD-Kanzler Schröder zum ersten Mal nach 1945 deutsche Soldaten in einen Krieg.
Nach der Bundestagswahl vom Februar und der Zustimmung der Basis zum Koalitionsvertrag ist der wehrhafte Flügel der SPD so stark wie lange nicht mehr. Die pazifistische Linke hat ihre Führung verloren. Der frühere Fraktionschef Mützenich ist abgetreten, die Ko-Parteivorsitzende Esken geschwächt.
Stattdessen treten Klingbeil und Pistorius ins Licht. Pistorius will die Bundeswehr kriegstüchtig machen, und Klingbeil erinnert daran, dass Deutschlands Wehrausgaben unter Brandt bei 3,5 Prozent lagen. Im Bundestag sagte er unlängst den für manche Sozialdemokraten unerhörten Satz, Russland bedrohe nicht nur die Ukraine, sondern auch Deutschlands Sicherheit.
Klingbeil klingt fast wie Wadephul
Weil er bei der SPD der Schmied des Koalitionsvertrags war, hat die Zustimmung der Basis ihn so gestärkt, dass selbst ein so populärer Mann wie Pistorius ihn kaum mehr herausfordern kann. Jetzt übernimmt er das Finanzressort, und weil deutsche Finanzminister einen festen Platz auf der Weltbühne haben, kann er ein starker Akteur der deutschen Außenpolitik werden.
Mit Klingbeil und Pistorius hat die SPD die Chance einer konstruktiven sicherheitspolitischen Zusammenarbeit mit der Union. Man ist sich einig, dass man mehr für Verteidigung ausgeben will und dass die Bundeswehr deutlich größer werden muss. Wenn Klingbeil sagt, die Ukrainer kämpften „für unser aller Freiheit“, klingt er fast wie der designierte CDU-Außenminister Wadephul, welcher der Ansicht zustimmt, dass im Donbass auch Deutschland verteidigt wird.
Trotzdem gibt es noch Trennendes. Die CDU wollte in den Koalitionsvertrag schreiben, dass der Wehretat auf 3,5 Prozent des Wirtschaftsvolumens steigen soll, und sie hätte gerne eine allgemeine Dienstpflicht eingeführt, die auch als Wehrdienst geleistet werden kann. Der SPD ging das zu weit.
„Zunächst“ wird bald vorbei sein
Es muss also noch dies und das geschehen, bevor die SPD durch die Tür tatsächlich hindurchgeht, welche die Mitglieder ihr geöffnet haben. Einiges muss sofort passieren. Der Bundestag hat zum Beispiel schon gefordert, der Ukraine weitreichende Waffen zu liefern. Scholz hat das ignoriert, aber der designierte Kanzler Merz hat den deutschen Marschflugkörper Taurus in Aussicht gestellt. Wenn der Beschluss in absehbarer Zeit vollzogen werden soll, müssten ukrainische Soldaten jetzt schon am Taurus ausgebildet werden.
Das wäre ein Zeichen der Entschlossenheit schon vor der Lieferung selbst. Außerdem muss das Parlament oder die kommende Regierung den beschlossenen Aufwuchs des Wehretats sehr bald mit Zahlen unterlegen. Falls nicht, wird Merz beim NATO-Gipfel im Juni Amerika kaum von seinem Wert als Partner überzeugen und säumige Verbündete zum Nachziehen animieren können.
Mittelfristig aber müssen SPD und Union einen Weg finden, wie die Bundeswehr samt Reserven bis 2029 um 100.000 Soldaten wachsen soll. Die Zahl wird auch von den Fachleuten der SPD nicht infrage gestellt. Weil die Partei den Wählern aber keine Pflichten zumuten will, hat sie eine Formulierung durchgesetzt, der zufolge der neue Wehrdienst „zunächst auf Freiwilligkeit“ beruhen soll. Der Union ist daran vor allem das Wort „zunächst“ wichtig. Sehr bald wird man das Paket noch einmal öffnen müssen, wenn man der Herausforderung aus Moskau begegnen will.