Sie nennen es eine Untergrundschule. Aber eigentlich ist die private Sprachschule von außen leicht zu erkennen. Im zweiten Stock sitzen junge Afghaninnen in Klassenräumen hinter Glaswänden und lernen Englisch. „Sie bereiten sich auf einen Test vor und hoffen, mit einem Stipendium im Ausland studieren zu können“, sagt die Leiterin der Sprachschule. Damit sie frei sprechen kann, soll hier unerwähnt bleiben, in welcher afghanischen Stadt sich ihr Institut befindet.
Vor zwei Monaten kamen die Sittenwächter, um die Schule zu schließen. Sechs Männer in weißen Kitteln, die sie aussehen lassen wie Ärzte. Das ist die Dienstbekleidung des Ministeriums für die Förderung der Tugend und die Bekämpfung des Lasters, wie es offiziell heißt. „Wir haben alle Mädchen schnell nach Hause geschickt“, sagt die Schulleiterin. Dann grinst sie und fügt hinzu: „Eine Woche später haben wir wieder aufgemacht.“
Manche Eltern hätten ihren Töchtern zwar nicht mehr erlaubt zu kommen. Aus Angst, dass die Mädchen auf eine Polizeistation gebracht werden könnten, was in der afghanischen Gesellschaft mit Schamgefühlen und Stigmata verbunden ist. Aber die meisten Schülerinnen seien wiedergekommen. Sie sahen offenbar die größere Gefahr darin, zu Hause ohne Bildung zu verkümmern. Die Sittenwächter seien auch nicht bis in den zweiten Stock vorgedrungen, sagt die Schulleiterin triumphierend. „Wir haben ihre Regeln zu unserem Vorteil genutzt.“ Die Lehrer der Jungenschule im ersten Stock hätten die sechs Männer weggeschickt. „Sie haben ihnen gesagt, dass sie nicht in den zweiten Stock dürfen, weil dort nur Mädchen seien.“
Viele Väter leiden mit ihren Töchtern
So viel Chuzpe mag überraschen angesichts der harschen Verbote, mit denen die Taliban Frauenrechte seit fast vier Jahren einschränken. Aber natürlich widersetzen sich auch in Afghanistan viele Frauen dem Diktat der Sittenwächter. Die meisten machen das nicht demonstrativ, im offenen Protest. Sie tun es, indem sie Freiräume ausloten und die toten Winkel des Taliban-Staates nutzen. In manchen Teilen des Landes sind die lokalen Taliban-Funktionäre weniger erpicht darauf, die Verbote durchzusetzen. In manchen Nachbarschaften schützen Bewohner die Untergrundschulen durch ihr Schweigen, in anderen mag es Denunzianten geben.

„Ich habe meinen Mann gefragt, warum er das alles zulässt“, sagt die Leiterin der Sprachschule, die wegen des Universitätsverbots für Frauen im Dezember 2022 ihr Medizinstudium abbrechen musste. „Er hat gesagt, allein könne er nichts ausrichten. Nach dem langen Krieg seien alle zu müde, um sich offen zur Wehr zu setzen.“ Stattdessen habe er sie ermutigt, mit einem Stipendium ins Ausland zu gehen.
Die Unterstützung, die Frauen aus der Gesellschaft erhalten, ist begrenzt. Man trifft in Afghanistan viele Väter, die mit ihren Töchtern leiden. Man trifft aber auch Männer, die aus ihrer Geringschätzung für Frauen keinen Hehl machen und sich durch die herrschenden Taliban in ihrer Haltung bestärkt fühlen. Man trifft Beamte, die es in ihrem Ministerium vermeiden, eine Frau direkt anzusprechen, und später in einem privaten Kontext locker drauflosplaudern.
Er darf arbeiten, weil sie sein Wissen brauchen
Fragt man Offizielle nach den Verboten für Frauen, bekommt man verdruckste Antworten. In manchen ländlichen Gegenden treffen die archaischen Regeln der Taliban auf Zuspruch. In Städten wie Kabul oder Herat fühlt sich die gebildete Mittelschicht dagegen, als werde sie von Hinterwäldlern regiert. Zugleich scheint sich das Großstadtleben auch auf die Taliban auszuwirken. Die Sicherheitskräfte an den Kontrollposten in Kabul sehen weniger wild aus als zum Beispiel in der ostafghanischen Stadt Dschalalabad, wo sie lange Haare und ungestutzte Bärte tragen.

„Die meisten Männer in Afghanistan glauben, dass Frauen ins Haus gehören“, sagt ein afghanischer Fernsehjournalist. Das bedeute aber nicht, dass sie die Sittenwächter unterstützen. „Die mischen sich zu sehr in das Privatleben der Leute ein.“ Denn auch Männer sind seit dem Inkrafttreten des sogenannten Tugendgesetzes im vergangenen Jahr zunehmend von der Einmischung betroffen. In Jungenschulen sind jetzt westlich inspirierte Schuluniformen verboten. Die Schüler sollen Turbane tragen.
In manchen Ministerien werden Mitarbeiter gedrängt, sich einen mindestens faustlangen Bart wachsen zu lassen. Die hausinternen Tugendwächter, die in jeder Behörde mit einer eigenen Abteilung vertreten sind, sollen die Mitarbeiter gar über Videokameras beobachten. Wie streng die Bart- und Kleiderordnung genommen werde, hänge von der Leitung der Behörde ab, berichtet ein Ministerialbeamter. Die Führung seines Hauses achte weniger auf Äußerlichkeiten. Aber das einfache Taliban-Personal lasse ihn Geringschätzung spüren, wenn er keine Kappe trage. Der Mann hat schon für die vorherige, vom Westen unterstützte Regierung gearbeitet. Die Taliban beschäftigen ihn weiter, weil sie sein Fachwissen brauchen. „Sie vertrauen uns aber nicht“, sagt er.
Lautes Musikhören ist verboten
Das Tugendgesetz verbietet Taxifahrern, Frauen ohne männliche Angehörige zu fahren. Wer dagegen verstoße, werde zwei Stunden lang eingesperrt, sagt ein Taxifahrer in Herat. Ob ihm das schon einmal passiert sei? „Nein“, sagt er. „Weil ich einen Taliban-Kommandeur kenne.“ Es reiche, seinen Namen zu nennen, dann werde er durchgewinkt. Auch an das Musikverbot im Auto hält er sich – wie viele Fahrer – nicht.
Sie stellen die Musik an Kontrollpunkten der Sicherheitskräfte nur kurz leise – und drehen sie noch in Hörweite der Taliban wieder auf. „Sie haben uns schon alles genommen, was Spaß macht“, sagt ein Rikscha-Fahrer in Herat, während Popmusik aus seinen Lautsprechern dröhnt. „Wenn wir uns das noch nehmen lassen, haben wir nichts mehr.“ Einmal wurde deshalb seine Rikscha beschlagnahmt. Er bekam sie gegen Zahlung der Abschleppkosten zurück.

Bei Hochzeitsfeiern ist Musik ebenfalls verboten. Alle Berufsmusiker sind deshalb jetzt arbeitslos. In den Sälen, in denen die Männer feiern, wird das Verbot streng eingehalten, weil unter den Gästen oft auch Taliban sind. In den Frauenräumen läuft dagegen meist Musik vom Band, weil männliche Sittenwächter hier keinen Zutritt haben und das Tugendministerium kaum Frauen beschäftigt – schon gar nicht abends.
Viele Afghaninnen weichen wegen des Studierverbots auf Bildungsangebote im Internet aus. Eine frühere Landwirtschaftsstudentin berichtet stolz, dass sie sich über Youtube selbst das Fotografieren beigebracht habe. Sie gewann im vergangenen Jahr einen Preis bei einem Fotowettbewerb. Doch bei der Preisverleihung wurden nur die männlichen Gewinner gewürdigt. Die Gewinnerinnen bekamen ihre Urkunden wortlos in die Hand gedrückt. In diesem Jahr sind Frauen von der Teilnahme ausgeschlossen.
Malen gegen Depressionen
Wie die Fotografin suchen auch andere Frauen Zuflucht in der Kunst, um zumindest ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Sie schreiben Gedichte, sie malen. Eine Zeichenlehrerin berichtet, dass ihre Malkurse zuletzt immer mehr Zuspruch fanden. „Die Frauen sind es leid, einfach nur zu Hause zu sitzen“, sagt sie. „Malen gibt ihnen ein Gefühl von Freiheit. Es hilft gegen Depressionen.“
Dann aber kamen immer wieder Taliban in ihre Galerie. Erst verlangten sie nur, dass sie keine Frauen ohne Schleier und keine Bilder über häusliche Gewalt malen dürfe. Dann hieß es, nur noch Landschaften und abstrakte Bilder seien erlaubt. Dann wurden sie misstrauisch und wollten wissen, was die abstrakten Bilder bedeuten. Schließlich wurden sie wütend und brachen der Kunstlehrerin das Stirnbein.

„Ich hatte solche Angst, dass ich mich erst nicht getraut habe, zum Arzt zu gehen“, sagt sie. Die Frau musste nicht nur ihre Zeichenschule schließen, sondern auch wegziehen, weil die Nachbarn über sie tuschelten. Sie forderten ihren Mann auf, seine Frau besser zu kontrollieren. Womöglich wird die Zahl solcher Zwischenfälle zunehmen. Seit dem Inkrafttreten des Tugendgesetzes im vergangenen August arbeiten die Taliban systematisch daran, die Regeln in allen Provinzen stringenter durchzusetzen. Laut einem aktuellen Bericht der UN-Mission für Afghanistan wurden 3300 Inspekteure mit dieser Aufgabe betraut.
Die Beschäftigungsquote für Frauen in Afghanistan ist laut Schätzungen der Internationalen Organisation für Arbeit seit der Machtübernahme der Taliban von 16 Prozent auf fünf Prozent gefallen. Sadia Ghezal Rashed gehört zu den wenigen Unternehmerinnen des Landes. Sie betreibt eine Schuhfabrik, einen Teppichhandel, produziert Schmuck und Festtagsbekleidung. „Die Frau des Propheten war eine Geschäftsfrau, deshalb können sie das nicht verbieten“, sagt Rashed. In einem eleganten Gewand sitzt sie hinter einem schweren Schreibtisch in ihrem Büro in Kabul. Sie ist die einzige Gesprächspartnerin, die namentlich genannt werden will. „Wenn wir uns immer selbst zensieren, können wir nicht gehört werden“, sagt die Juristin.
Ihr Unternehmen Narsees hat sie 2017 gegründet. Als die Taliban vier Jahre später die Macht übernahmen, blieb sie im Land, obwohl sie eine Greencard für die Vereinigten Staaten besitzt. Wenn sie aus Afghanistan ausreisen will, zum Beispiel um eine Messe im Ausland zu besuchen, braucht sie laut Gesetz einen männlichen Angehörigen als Begleiter. Da ihre Familie im Ausland lebt, muss dafür ihr Schwager aus Saudi-Arabien anreisen. Rashed darf zwar ein Unternehmen leiten, aber für ihre gemeinnützige Bildungsorganisation gelten andere Regeln. Dafür braucht sie einen männlichen Verwalter. „Ich bin zwar die Direktorin, aber ich habe keinen Zugang zum Konto der Organisation“, sagt sie. „Meine Unterschrift wird nicht anerkannt.“
Neulich kritisierte ein Dichter auf einem staatlich organisierten Lyrikfestival den Anführer der Taliban, Haibatullah Akhundzada, unter anderem wegen seiner Frauenpolitik. Daraufhin wurden alle größeren Dichtertreffen verboten. Der Leiter des Kulturamts der Provinz Nangarhar wurde noch am selben Tag entlassen. „Wenn du sie kritisierst, denken sie, du kritisierst ihre religiösen Überzeugungen“, sagt der Politikwissenschaftler Faiz Zaland von der Universität Kabul, der seinen Masterabschluss in Erfurt gemacht hat. „Sie halten sich für Auserwählte Allahs und ihre Kritiker für Ungläubige, die durch den Kontakt mit anderen Ländern kontaminiert wurden.“