Wie die AfD den 8. Mai umdeuten will

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Die AfD will, dass die Deutschen der NS-Zeit anders gedenken. Die einheimischen Opfer sollen stärker in den Fokus rücken. So kam es, dass kürzlich einige Bundes- und Landtagsabgeordnete der AfD nach Seelow fuhren. In dem brandenburgischen Örtchen fand im April 1945 eine der blutigsten Schlachten des Krieges statt. Die AfDler gedachten dort mit Kommunalpolitikern und dem russischen Botschafter der sowjetischen Gefallenen.

Als der Botschafter schon wieder weg war, ging es noch weiter zum Friedhof mit den Gräbern deutscher Soldaten. Dort posierten fünf AfD-Männer, unter ihnen der Landesvorsitzende, vor einem Gedenkstein. Über Telegram schickte der Landesverband mehrere Fotos herum. „Krieg ist immer eine Katastrophe – für alle Beteiligten“, hieß es im Text dazu. Erinnerung brauche Ehrlichkeit, Würde und Vollständigkeit. „Geschichte gehört nicht den Grünen. Sie gehört uns allen.“

Haben die Grünen ihren Landsleuten eine „unpatriotische“ Einstellung anerzogen? Wurde den Deutschen der Stolz auf ihre Geschichte wegen der nationalsozialistischen Verbrechen geraubt? Diese Fragen werden gerade wieder debattiert. Denn das Ende des Zweiten Weltkriegs jährt sich zum 80. Mal – Gedenken allerorten.

Seit der wegweisenden Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker im Jahr 1985 wird der 8. Mai 1945 in Deutschland als Tag der Befreiung „von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“ betrachtet, wie Weizsäcker es formuliert hatte. Er versäumte aber nicht, auch die Trauer um die eigenen Landsleute auszudrücken, die ihr Leben verloren, und sein Mitgefühl für jene, die Opfer von Vertreibung, Plünderung oder Vergewaltigung wurden.

Die AfD will die Trauer um deutsche Opfer an erster Stelle

Doch die AfD plädiert dafür, dass diese Trauer an erster Stelle stehen müsse. Darum kämpfte sie in den vergangenen Monaten dagegen, dass der 8. Mai ein gesetzlicher Feiertag wird. Im Land Berlin hat der schwarz-rote Senat genau das durchgesetzt – nur für dieses Jahr. Die Berliner AfD geißelte das. Der Begriff der Befreiung werde „den Opfern der sowjetischen Unterdrückung in Osteuropa nicht gerecht“. Für viele Ostdeutsche und Osteuropäer sei nur die eine Diktatur durch eine andere, die kommunistische, ersetzt worden. Deshalb könne man allenfalls von einer „halben Befreiung“ sprechen.

In Thüringen sprach sich die AfD im Landtag gegen einen Antrag der Linken aus, den 8. Mai 2025 dort ebenfalls zum einmaligen Feiertag zu machen. Das sei „linke Folklore“, die auf einer „simplifizierten Darstellung“ der Geschichte beruhe, sagte der AfD-Abgeordnete Sascha Schlösser im November. Schließlich sei Deutschland infolge des 8. Mais 1945 in Ost und West geteilt worden. „Das möchten Sie feiern“, warf er der Linken vor. Deren Antrag sei „ein Musterbeispiel für linke Cancel Culture“. Das Leid der Betroffenen werde ausgelöscht, die Linke gehe „über Leichen hinweg“. Ein Gedenktag könne der 8. Mai bleiben. So entschied es im März der Landtag.

Ein Gedenktag wird in der Regel nicht breit wahrgenommen, weil er nicht arbeitsfrei ist. Zum Gedenktag ist der 8. Mai schon in vielen Bundesländern erklärt worden, etwa in Schleswig-Holstein, Brandenburg, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen oder Hamburg. In diesem Jahr folgte Sachsen auf Antrag der Linken-Fraktion; die sächsische CDU stimmte erstmals einem Linken-Antrag zu.

Die Fallstricke der Debatte

Freilich weiß die AfD um die Fallstricke der Debatte – nicht erst, seit sie am Freitag vom Verfassungsschutz an gesichert rechtsextrem eingestuft wurde. Politiker aus ihren Reihen haben schon oft Empörung ausgelöst mit geschichtspolitischen Vorstößen. Etwa Björn Höcke, der 2017 eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ forderte und das Berliner Holocaust-Mahnmal als „Denkmal der Schande“ bezeichnete.

Ein Jahr später provozierte Alexander Gauland mit dem Satz, Hitler und die Nazis seien nur ein „Vogelschiss“ in über tausend Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte. Diese Attacken waren erfolgreich im Sinne der Taktik, die Grenzen des Sagbaren zu erweitern. Die AfD reagierte auf die Empörung mit relativierenden Aussagen, wie es das Lehrbuch des Populisten in solchen Fällen vorsieht.

Der AfD-Politiker Marc Jongen hatte sich 2020 mit dem Argument gegen den 8. Mai als Feiertag gewandt, das Land Berlin folge mit der Befreiungsrhetorik dem Beispiel des SED-Regimes. Das hatte den 8. Mai zum Tag der Befreiung erklärt und ihn 1950 zum Feiertag gemacht. Doch mit der Einführung der Fünf-Tage-Woche – bis dahin war der Samstag in der DDR ein regulärer Arbeitstag – wurde er 1967 wieder zum Werktag degradiert. Alexander Gauland sagte vor fünf Jahren, man könne „den 8. Mai nicht zu einem Glückstag für Deutschland machen“. Er sei „auch ein Tag der absoluten Niederlage, ein Tag des Verlustes von großen Teilen Deutschlands und des Verlusts von Gestaltungsmöglichkeiten“ gewesen.

Zuletzt hatte der AfD-Politiker Maximilian Krah für Aufsehen gesorgt. Er erreicht auf Tiktok Millionen mit seinen Videos. Krah forderte seine – oft jungen – Zuschauer auf, sich „aufzurichten“ an dem, was ihre Vorfahren getan hätten. Ein anderes Mal postulierte er: „Unsere Vorfahren waren große Männer und Frauen, es waren Helden, es waren Vorbilder.“ Und eben keine „Verbrecher“. Ganz so, als hätte es im Nationalsozialismus keine deutschen Verbrechen gegeben. Krah, vormals EU-Abgeordneter, sitzt seit Kurzem für die AfD im Bundestag.

Der russische Haken an der Sache

Die Sache mit dem 8. Mai hat allerdings einen besonderen Haken für die AfD. Die Partei ist eng mit Moskau verbunden; die Partei- und Fraktionschefs sowie viele Funktionäre pilgerten in den vergangenen Jahren regelmäßig in Putins Reich. Der Kreml wiederum unterstützt die AfD, dient sie doch seinem Ziel, Deutschland zu destabilisieren. Gleichzeitig ist es schwierig, die Gräueltaten der sowjetischen Soldaten und des kommunistischen Regime nach 1945 ganz von Russland zu trennen, das zudem heute einen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt.

Ein Sinnbild fand dieser Widerspruch im Besuch des AfD-Vorsitzenden Tino Chrupalla in der russischen Botschaft in Berlin am 9. Mai 2023. Chrupalla feierte den Tag des Sieges mit den ehemaligen Kriegsgegnern und Besatzern. Er trug eine weiß-rot-blaue Krawatte – die Farben der russischen Flagge. Der Empfang habe „einen guten Anlass zu Dialog und Völkerverständigung“ geboten, sagte Chrupalla kurz darauf der Zeitschrift „Sezession“ des neurechten Verlegers Götz Kubitschek.

AfD-Chefin Alice Weidel distanzierte sich deutlich. Sie habe den Besuch in der russischen Botschaft bewusst abgelehnt, gab sie zu verstehen. Aber nicht etwa, weil Russland Krieg gegen die Ukraine führt. Sie sagte: „Hier die Niederlage des eigenen Landes zu befeiern mit einer ehemaligen Besatzungsmacht, das ist etwas, wo ich für mich persönlich entschieden habe, auch mit der Fluchtgeschichte meines Vaters, daran nicht teilzunehmen.“

Das Unsagbare werde sagbar, indem man es ausspreche

Das kam gut an, in der AfD, aber auch bei ihren Vordenkern. Die drängten die Parteiführung schon länger, sich patriotischer aufzustellen. Kubitschek sprach wenige Monate nach Chrupallas Auftritt von einem „geistigen Bürgerkrieg“ in Deutschland. „Die Vergiftung der Vergangenheit durch moralisierende Geschichtserzählung gehört zu den Grundbausteinen unserer Republik.“ Er lobte Weidel dafür, dem „Bekenntniszwang“ nicht nachgegeben zu haben. Und überhaupt, musste man denn Weizsäckers Feststellung vom „Tag der Befreiung“ folgen? „Ist das nicht – wie fast alles – eine Frage der Betrachtungsebene?“

Das Unsagbare werde sagbar, indem man es ausspreche statt aus Angst vor den Konsequenzen schweige. Das rechtsextreme Magazin „Compact“ stößt ins selbe Horn. In diesen Tagen bewirbt es seine diversen Sonderhefte mit Titeln wie „Polens verschwiegene Schuld“ und „Geschichtslügen gegen Deutschland“. Auch hier der Tenor: Die Darstellung des 8. Mai als Tag der Befreiung sei falsch.

Die Frage ist eben, was im Rückblick schwerer wiegt: die Schuld der Deutschen oder ihr Leid. Die AfD versucht, sich mit der Forderung nach „Ausgewogenheit“ vor einer Antwort darauf zu drücken. Und was ist dann zu lernen aus der Vergangenheit?

„Die Lehre sollte sein: Nie wieder Krieg“, antwortet Götz Frömming im Gespräch mit der F.A.Z. Er war früher Geschichtslehrer am Gymnasium, nun ist er kulturpolitischer Sprecher der AfD im Bundestag, außerdem Gründer von deren „Arbeitsgemeinschaft Geschichte“. Frömming findet, beim Gedenken an das Weltkriegsende sollten heute „für uns die eigenen Gefallenen an erster Stelle stehen, so wie es in anderen Ländern auch der Fall ist“. So hatte er es auch schon nach der Gedenkveranstaltung im brandenburgischen Seelow offiziell mitgeteilt: Die Erinnerung an die toten deutschen Soldaten und „das Leid der deutschen Zivilbevölkerung steht für uns Deutsche an erster Stelle“.

Sprechen über deutsche Opfer als Alleinstellungsmerkmal?

Das passt allerdings nicht zur behaupteten Ausgewogenheit. Frömming fügt in der Pressemitteilung wie auch im Gespräch hinzu, es gehöre dazu, die Toten der anderen Länder ins deutsche Gedenken einzubeziehen und „niemanden auszugrenzen“. Ein Seitenhieb auf deutsche Politiker, etwa Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) und Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD), die nicht gemeinsam mit russischen Offiziellen gedenken wollen, wegen Russlands Angriff auf die Ukraine.

Auch Frömming besteht darauf, dass er den Begriff Befreiung im Zusammenhang mit dem 8. Mai „unpassend“ finde. Er werde dem Tag in seiner Komplexität nicht gerecht. „Alle sind sich einig, dass es gut war, dass der Krieg zu Ende ging und die NS-Diktatur beseitigt wurde.“ Aber das Kriegsende sei vor allem in Ostdeutschland für viele Menschen auch mit brutalen Verbrechen der Sieger verbunden gewesen: Frauen seien massenhaft vergewaltigt, viele unschuldige Zivilisten gefoltert und verschleppt worden. „Schließlich wurde auf den Trümmern der alten eine neue Diktatur errichtet. Wahrlich keine Befreiung.“

Das klingt so, als meinte „Befreiung“ einen „Tanz unterm Regenbogen“, wie es der brandenburgische AfD-Fraktionschef der Landesregierung vorwirft – und nicht ein Ende mit Schrecken, das einem nationalsozialistischen Schrecken ohne Ende vorzuziehen war. Auf ihren Social-Media-Kanälen warb die AfD Brandenburg in den vergangenen Tagen mit Blick aufs Kriegsende für ihre Perspektive: „Niemand spricht von den deutschen Opfern – außer uns!“