Dow prüft Stilllegung von Chemieanlagen in Ostdeutschland

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Die Nachricht kam nicht ganz unerwartet und hat es für das mitteldeutsche Chemiedreieck trotzdem in sich: Der ameri­kanischen Chemiekonzern Dow erweitert die Überprüfung seiner europäischen Standorte und stellt zwei Anlagen in Mitteldeutschland unter besondere Beobachtung. Sowohl dem Steamcracker in Böhlen als auch den Chloralkali- und Vinylanlagen in Schkopau droht das Ende. Die Entscheidung soll bis zur Jahresmitte fallen. Bis zu 500 Arbeitsplätze könnten direkt betroffen sein. Im Chemiedreieck ist man auch wegen der möglichen indirekten Folgen für den Standort in Sorge.

„Mit der Abschaltung des Crackers würde ein wesentliches Element aus dem Verbund herausgebrochen“, sagt Christof Günther, Geschäftsführer von Infraleuna , Betreiber des größten Chemieparks im Chemiedreieck, im Gespräch mit der F.A.Z. Eine Stilllegung des Crackers würde den Verbund schwächen und zu Nachteilen entlang der gesamten Wertschöpfungskette führen, sagt er. Die Chemie in Ostdeutschland und insbesondere im mitteldeutschen Chemiedreieck sei durch ei­nen engen Stoffverbund gekennzeichnet, sagt Nora Schmidt-Kesseler, Hauptgeschäftsführerin des Verbands der Chemischen Industrie Nordost (VCI Nordost). In normalen Zeiten sei das eine große Stärke. „In der aktuellen Krise hingegen kann der Ausfall einzelner Anlagen weitreichende Folgen für den gesamten Chemiestandort haben.“

Ausgangspunkt für Produktionsketten

Der Cracker in Böhlen sei zentraler Ausgangspunkt vieler Produktionsketten im mitteldeutschen Chemiedreieck, heißt es auch bei der Industrie- und Handelskammer Halle-Dessau. Eine Stilllegung würde zahlreiche weitere Anlagen und Un­ternehmen sowie Arbeitsplätze in der Region bedrohen. Die Chemie macht hier ein Drittel des Industrieumsatzes aus.

Mit dem Cracker in Böhlen gewinnt Dow aus Rohbenzin chemische Grundstoffe wie Ethylen und Propylen. Ein großer Teil der Produktion geht über eine Pipeline nach Leuna, wo der Konzern Kunststoffe herstellt. „Die Dow-Kollegen sind mit dieser Anlage sehr erfolgreich und werden dies auch künftig sein“, sagt Infraleuna-Chef Günther. Die Vorteile im Verbund mit Böhlen könnten in Zukunft allerdings entfallen. Die Anlagen von Dow sind aber nicht nur für bestehende Verbindungen im Chemiedreieck ein Standortfaktor, sondern auch als Anknüpfungspunkt für Neuansiedlungen von Bedeutung. So will das Unternehmen Gelsenwasser in den nächsten zwei Jahren für einen hohen zweistelligen Mil­lionenbetrag eine Anlage zur Rückgewinnung von Phosphor aus Klärschlamm in Schkopau bauen und benötigt für dieses Vorhaben auch Salzsäure, wie sie Dow am Standort herstellt. „Das Projekt steht nicht infrage, aber das wird alles nicht einfacher“, sagt Torsten Ringling, der Bürgermeister von Schkopau.

Schwierige Rahmenbedingungen

Die Lage für die Branche ist nicht nur im mitteldeutschen Chemiedreieck an­gespannt und war schon vor der An­kündigung von Dow nicht einfach. „Für die energieintensive Chemieindustrie stimmen die Rahmenbedingungen in Deutschland nicht mehr“, sagt Schmidt-Kesseler. Die hohen Gas- und Strompreise hätten zusammen mit der anhaltenden Konjunkturschwäche dafür gesorgt, dass die Auslastung vieler Chemieanlagen derzeit unter 70 Prozent und damit weit entfernt von der Profitabilität liege. In Leuna sei die Auslastung der Anlagen etwas höher, weil der Chemiepark von der Drosselung der Produktion an anderen Standorten profitiere, sagt Infraleuna-Chef Günther. Die Stimmung im größten ostdeutschen Chemiepark sei trotzdem schlecht.

„Wir brauchen einen energiepolitischen Neustart“, fordert Schmidt-Kesseler. Im Koalitionsvertrag von Union und SPD sei eine klare Linie für die nötigen Kurskorrekturen aber nicht zu erkennen, sagt Günther. „Meine Befürchtung ist, dass wir erst noch größere Schäden sehen müssen, bevor in Berlin die Erkenntnis ankommt, dass mehr als Reparaturen nötig sind“, sagt er. Das habe auch damit zu tun, dass sich der bereits entstandene Schaden im mitteldeutschen Chemiedreieck bisher nur moderat auf dem Arbeitsmarkt niederschlägt.

Fünf Quartale mit Beschäftigungsabbau

Die ostdeutsche Chemieindustrie hat zuletzt zwar über fünf Quartale in Folge Beschäftigung abgebaut. Doch der Abbau geht in den meisten Fällen sozialverträglich und deshalb still und leise vor sich. „Das Teuerste in der Chemie sind die Rohstoffe, dann kommt die Energie, und dann kommen die Kapitalkosten für die Anlagen – an das Personal geht man als Allerletztes“, sagt Günther. Der Beschäftigungsabbau über die zurückliegenden fünf Quartale müsse deshalb besonders zu denken geben. „Das hat es seit der Restrukturierung der Chemiestandorte im Osten nach der Wende nicht gegeben“, sagt Günther.

Dow hatte die Überprüfung seiner eu­ropäischen Standorte bereits vor einem halben Jahr angekündigt. Der Konzern wolle die Kostenstruktur und die Produktionskapazität an die Marktbedingungen anpassen, hieß es zur Begründung. Bei der Vorstellung der Geschäftszahlen zum ersten Quartal teilte das Unternehmen jetzt mit, die Überprüfung auszuweiten. Sowohl für den Steamcracker in Böhlen als auch für die Chloralkali- und Vinyl­anlagen in Schkopau würden verschiedene Optionen geprüft, wobei eine temporäre Stilllegung oder eine Schließung der energieintensiven Anlagen am wahrscheinlichsten seien.

Als Dow die Standorte der ehemaligen DDR-Kombinate in Böhlen und Schkopau vor 30 Jahren übernahm, gehörte der Konzern zu den ersten großen interna­tionalen Investoren im Chemiedreieck nach der Wende. Das Unternehmen zählt zu den wichtigsten Arbeitgebern in der Region, in der die Chemieindustrie mit die attraktivsten Tarife zahlt. Insgesamt beschäftigt Dow an 13 Standorten in Deutschland rund 3.600 Mitarbeiter.

Ob die neue Bundesregierung die Entscheidung von Dow mit den im Koa­litionsvertrag von Union und SPD an­gekündigten Entlastungen für die energieintensive Industrie noch beeinflussen könnte, ließ der Konzern auf Anfrage offen. Auch die Frage, ob weitere Anlagen in die laufende Überprüfung einbezogen werden könnten, sollten die Entlastungen ausbleiben, kommentierte das Unternehmen nicht. Das Thema dürfte am Dienstag auf der Tagesordnung eines Treffens der Wirtschaftsminister aus den ost­deutschen Bundesländern stehen, zu dem Sachsen-Anhalts Wirtschaftsminister Sven Schulze (CDU) eingeladen hat.