Friedrich Merz ist im zweiten Wahlgang von einer Mehrheit der Abgeordneten zum Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt worden. Der gescheiterte erste Wahlgang mag in dem Sinne historisch genannt werden, als ein vergleichbares Ergebnis seit dem Jahr 1949 noch nicht vorgekommen war. Das Grundgesetz sieht jedoch aus wohlerwogenen Gründen die Möglichkeit mehrerer Wahlgänge vor.
Als wirklich historisch hätte ein endgültiges Scheitern einer Regierungsbildung aus Parteien der Mitte betrachtet werden müssen. Dazu ist es glücklicherweise nicht gekommen. Denn Deutschland ist ein aus einer Vielzahl von Gründen verunsichertes Land, das dringend eine entschlossene Regierung und eine ihr gewogene Regierungsmehrheit benötigt.
Wie sehr sich der über Jahrzehnte vertraute globale Rahmen verändert hat, belegt eine Äußerung Constanze Stelzenmüllers anlässlich des Ausbruchs des Ukrainekriegs. Demnach hatte Deutschland lange Zeit seine äußere Sicherheit an die Vereinigten Staaten, seine Energiesicherheit an Russland und einen nicht geringen Teil des Erfolgs deutscher Unternehmen an die Volksrepublik China ausgegliedert. Alle drei Grundlagen sind schwer erschüttert.
Jegliche Vorstellung einer Zusammenarbeit von Union und AfD scheitert
Auch wenn Donald Trump aller verbaler Ausraster zum Trotz die Vereinigten Staaten nicht aus der NATO führen sollte, wird die jahrzehntelange deutsche Neigung, sich verteidigungspolitisch als Trittbrettfahrer aus der Affäre zu ziehen, keinen Bestand mehr haben. Die Ampelregierung hatte unter dem Druck der Ereignisse mit einer Wende begonnen, der sich eine teure Neuaufstellung der deutschen Streitkräfte anschließen muss. Die finanziellen Voraussetzungen wurden mit der Änderung der Schuldenbremse geschaffen, aber Wehrtüchtigkeit entsteht nicht alleine durch das Verteilen von Geld.
Deutschland benötigt eine nachhaltige verteidigungspolitische Konzeption, die auf der Westbindung des Landes beruht, auch in der europäischen Militärindustrie eine enge Zusammenarbeit mit den Partnern fördert und überhaupt Freund von Feind zuverlässig unterscheidet. Allein bei diesem für dieses Land entscheidenden Thema scheitert jegliche Vorstellung einer Zusammenarbeit von Union und AfD.
Eine alternde, strukturkonservative Gesellschaft
Die Sicherheit eines Landes definiert sich nicht nur durch eine angemessene militärische Verteidigungsbereitschaft. In der Versorgung mit kritischen Rohstoffen, zu denen auch fossile Energieträger zählen, sind Abhängigkeiten von einzelnen Lieferanten zu vermeiden. Der strategische Fehler Deutschlands hatte nicht darin bestanden, überhaupt Gas aus Russland zu beziehen. Dafür existierten nachvollziehbare wirtschaftliche Gründe. Der strategische Fehler bestand darin, mehr als die Hälfte der deutschen Gasversorgung ohne jede Not auf ein Land zu stützen, dessen außenpolitische Aggressivität seit Jahren bekannt war und das im Gebrauch von Gas als wirtschaftlicher Waffe über eine reiche Erfahrung verfügte.
Die künftige deutsche Bundesregierung muss sich ebenso für eine engere und konstruktivere Zusammenarbeit in der Europäischen Union einsetzen. In einer Welt, in der die Vereinigten Staaten und die Volksrepublik China in einem Wettbewerb um möglichst hohe Zollsätze stehen, sollte die Europäische Union weiterhin für die erprobte multilaterale Welthandelsordnung eintreten und den Abschluss von Freihandelsverträgen forcieren. Für die Europäische Union haben die im vergangenen Jahr vorgelegten Berichte der ehemaligen italienischen Premierminister Enrico Letta und Mario Draghi einen erheblichen Reformbedarf konstatiert. Lettas Bericht zeigt die Versäumnisse in der Weiterentwicklung des Binnenmarkts auf, während Draghi vor allem das völlig unzureichende Produktivitätswachstum thematisiert.
Der Bericht Draghis behandelt Schwächen, die auch die deutsche Wirtschaft seit langem lähmen. Die künftige Bundesregierung muss einen erheblichen Beitrag dazu leisten, Deutschland zu modernisieren und zu mobilisieren. Das ist in einer alternden Gesellschaft, die zu einem strukturkonservativem Verhalten neigt, keine kleine Aufgabe. Der wirtschaftliche Erfolg der Zehnerjahre hatte viele Menschen zu lange in Sicherheit gewiegt.
In einer durch einen revolutionären technischen Fortschritt, aber auch geopolitische Unruhe gekennzeichneten Welt benötigt Deutschland eine Regierung, die den Mut zu Veränderungen nicht scheut. Wenn die Regierung Merz diese Aufgabe in der Wahrnehmung der Bevölkerung bewältigt, wird die gescheiterte erste Abstimmung zur Kanzlerwahl nur als Fußnote in die Geschichtsbücher eingehen.