Vor 80 Jahren befreiten die Alliierten die Welt vom Nationalsozialismus. Doch die Erinnerung an die Befreiung wird von der AfD angegriffen. Historiker Stefan Creuzberger erklärt, warum der 8. Mai 1945 ohne Zweifel ein Tag der Befreiung war.
Tausend Jahre sollte das Reich der Nazis Bestand haben nach dem Willen des Diktators Adolf Hitler, doch am 8. Mai 1945 endete der Nationalsozialismus bereits nach zwölf Jahren. Abermillionen von Menschen hatte der rassistische Größenwahn das Leben gekostet. Als “Tag der Befreiung” gilt der 8. Mai 1945 heute aus gutem Grund. Doch aus Richtung der AfD gibt es Versuche, die Erinnerung zu verfälschen.
Warum war der 8. Mai 1945 zweifelsohne ein Tag der Befreiung? Was bezwecken Politiker der AfD mit ihrem Geschichtsrevisionismus? Welche Auswirkungen haben der 8. Mai 1945 und die folgenden Entwicklungen auf West- und Ostdeutschland bis in die Gegenwart? Diese Fragen beantwortet der Historiker Stefan Creuzberger im Gespräch.
t-online: Professor Creuzberger, am 8. Mai 1945 befreiten die Alliierten die Welt und Deutschland vom Nationalsozialismus, Alice Weidel und andere AfD-Politiker wollen dieses historische Datum zum “Tag der Niederlage” umdeuten. Was soll das?
Stefan Creuzberger: Der 8. Mai 1945 war ein Tag der Befreiung, daran gibt es überhaupt keinen Zweifel. Um diese historische Tatsache kommt auch die AfD nicht herum. Dieser Tag war eine tiefe Zäsur in der deutschen Geschichte: Davor befand sich die nationalsozialistische Diktatur mit ihren unzähligen Verbrechen, wir dagegen leben heute dank der westlichen Alliierten in einer liberalen Demokratie. Ein “Tag der Niederlage” war der 8. Mai 1945 hingegen zweifelsohne für eingefleischte Anhänger der NS-Diktatur, die nach der deutschen Kapitulation keine Zukunft mehr für sich sahen. Das wiederum sagt doch eine Menge über die AfD aus.
Was ist Ihr Ratschlag für den Umgang mit dem Geschichtsrevisionismus seitens der AfD?
Dagegen müssen wir entschieden vorgehen. Diese pseudohistorischen Erklärungsmodelle, die Leute wie Alice Weidel, Alexander Gauland, Björn Höcke und andere Akteure von rechter Seite in die Welt setzen, sollen die bundesdeutsche Erinnerungskultur verändern und die Verantwortung des verbrecherischen NS-Regimes mindern. Selbstverständlich müssen wir differenziert mit dem 8. Mai 1945 umgehen, erklärend und analysierend, aber keineswegs verfälschend und verharmlosend, so wie es die AfD betreibt.
Stefan Creuzberger, Jahrgang 1961, lehrt Zeitgeschichte an der Universität Rostock und leitet zugleich die Forschungs- und Dokumentationsstelle des Landes Mecklenburg-Vorpommern zur Geschichte der Diktaturen in Deutschland. Der Historiker ist Experte für die Geschichte Russlands und Mitherausgeber der “Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland“. 2022 erschien Creuzbergers Buch “Das deutsch-russische Jahrhundert. Geschichte einer besonderen Beziehung“, das für den Deutschen Sachbuchpreis nominiert war. Derzeit ist Stefan Creuzberger Gastwissenschaftler an der University of Pennsylvania (Penn) in Philadelphia (USA).
Walter Scheel hat 1975 als erster Bundespräsident den 8. Mai 1945 als Befreiung bezeichnet, weit größeres Aufsehen erregte dann sein Nachfolger Richard von Weizsäcker mit seiner Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes 1985.
Aus Sicht der deutschen Demokratie, die im Westteil des Landes 1949 mit Gründung der Bundesrepublik erneut entstand, ist Weizsäckers Bezeichnung vom Tag der Befreiung in höchstem Maße gerechtfertigt. Ebenso mit Blick auf die NS-Diktatur, die gewaltsam gestürzt werden musste. Da lag von Weizsäcker mit seiner legendären Rede genau richtig, das hat er nicht ohne Grund so ausgedrückt. Damals bekam Weizsäcker allerdings reichlich Kritik, von Angehörigen älterer Generationen etwa, aber auch von den Vertriebenen, die damals noch eine ganz andere Rolle spielten als heute.
Wie stellte sich die Lage am 8. Mai 1945 dar?
Die Überlebenden der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager konnten sich nun endlich sicher sein, dass der Rassenwahn dieser Diktatur ein Ende gefunden hatte. Ebenso konnten die Gegner dieses Regimes aufatmen. Zugleich war ein Großteil der Deutschen erleichtert, die Kriegshandlungen überlebt zu haben. Allerdings gab es nun die bohrende Ungewissheit, was die Zukunft bringen sollte. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass die Gewalt mit dem 8. Mai keineswegs auf diesem Kontinent beendet war.
Spielen Sie auf Vertreibungen und die sogenannten Bevölkerungsverschiebungen von Millionen Menschen nach dem Kriegsende an?
Tatsächlich ging die Gewalt auch nach dem 8. Mai 1945 weiter. Bis Anfang Juni 1945 gab es zum Beispiel in Jugoslawien noch Kämpfe zwischen Tito-Partisanen und Einheiten der Wehrmacht. Dann fanden auch die erwähnten Gewaltmaßnahmen im Zuge von Bevölkerungsvertreibungen und Grenzverschiebungen statt. Das betraf besonders deutsche Bevölkerungsgruppen, aber auch etwa im Zuge der sogenannten Westverschiebung Polens verloren zahlreiche Menschen – in diesem Fall mehr als 1,5 Millionen Polen und Ukrainer – ihre Heimat. Wir dürfen auch nicht die Konflikte und militärischen Auseinandersetzungen im Europa der unmittelbaren und frühen Nachkriegszeit vergessen. In der Ukraine und im Baltikum kämpften Partisanen weiterhin gegen die Rote Armee, in Griechenland ging seit 1946 der Bürgerkrieg in eine neue Runde.