Friedrich Merz steht im Elysée-Palast in Paris, Bundeskanzler Friedrich Merz. Hinter ihm die Flaggen Frankreichs, Deutschlands und der Europäischen Union, über ihm ein gläsernes Dach in den Farben Blau, Weiß und Rot, den französischen Nationalfarben. Es ist nicht einmal Mittag. 24 Stunden zuvor wusste Merz noch nicht, wann er zum Kanzler gewählt würde, nachdem er im ersten Wahlgang durchgefallen war. Erst Mittwoch? Gar am Freitag? Doch noch, wie vorgesehen, am Dienstag? Würde er überhaupt zum Kanzler gewählt, oder meinten es die 18 Abtrünnigen ganz ernst? Am Ende ging es noch am Dienstag gut.
Nun läuft also alles wie geplant. Morgens geht es los vom militärischen Teil des Berliner Flughafens BER, Merz wird an Bord des Regierungsflugzeugs vom Kapitän als Kanzler begrüßt, als wäre es nie anders gewesen. Äußerlich sieht man Merz nicht an, was für ein Tag hinter ihm liegt. Dass er sich nicht nur fragen muss, was da passiert ist, sondern vielmehr, was das für die Handlungsfähigkeit seiner Koalition bedeutet. Doch das eine ist gestern gewesen, das andere wird sich in der Zukunft zeigen. Heute ist Paris, später Warschau, und neben Merz steht Emmanuel Macron, der französische Präsident und gratuliert dem neuen deutschen Kanzler zur Wahl.
Lange hatte Merz auf diesen Tag eins hingefiebert. Hatte Ankündigungen für diesen Tag gemacht. Doch vor dem Tag eins steht jetzt ein denkwürdiger Tag null. Mit vielen offenen Fragen – für Merz, für seinen Koalitionspartner SPD, für die Bürger.
Merz und der neue Schwung
Als Merz dann nach einer ersten Unterredung mit Macron mit diesem vor die Mikrofone tritt, bekräftigen beide den Eindruck, dass die Außen- und Sicherheitspolitik im Moment ganz oben auf ihrer Prioritätenliste stehen. Macron sagt, die Wahl von Merz werde „neuen Schwung“ in die Beziehungen beider Länder zueinander bringen. Es gehe um die Sicherheit Europas angesichts der Gefahr, die Russland darstelle. Frankreich werde seinen Verteidigungshaushalt verdoppeln, sagt Macron, und lobt die Entscheidung Deutschlands, Verteidigungsausgaben von der Schuldenbremse auszunehmen. Es werde ein deutsch-französisches Programm für Innovationen im Verteidigungsbereich aufgelegt, kündigt Macron an.
Unter dem mächtigen Kronleuchter, unter dem die beiden stehen, ist dann Merz an der Reihe. Er hat den Ausführungen Macrons ohne Kopfhörer gelauscht, was zeigen mag, dass er ihn auch auf Französisch versteht. Merz erinnert an die Bedeutung einer guten Beziehungen der beiden Länder. Er blickt auf den Donnerstag, den 8. Mai, an dem des Kriegsendes gedacht wird. Die deutsch-französische Freundschaft sei ein Geschenk der Vergebung und Versöhnung, sagt Merz. Er habe mit Macron einen Neustart vereinbart. Auf die Distanz zwischen seinem Vorgänger Olaf Scholz und Macron muss er gar nicht eingehen. Sie steht deutlich genug zwischen den Zeilen.
Am Abend vor diesem Auftritt platzt der riesige Weltsaal im Herzen des Auswärtigen Amts aus allen Nähten. Der zweite Wahlgang im Bundestag ist schon fast fünf Stunden vergangen und in mehreren Ministerien wurden die Amtsübergaben erst auf unbestimmte Zeit verschoben und schließlich für den Dienstag abgesagt. Im Auswärtigen Amt aber warten Dutzende Botschafter aus aller Welt, Abgeordnete des Bundestages und viele Mitarbeiter des Ministeriums noch auf den neuen Minister. Der wird von seiner Vorgängerin in Empfang genommen, Annalena Baerbock führt ihn erst in sein neues Amtszimmer und heißt ihn später auf der Bühne willkommen. Johann Wadephul sagt „Moin“, es sei „schön und gut, dass das heute noch geklappt hat mit der Amtsübergabe.“
Keine Zeit für Verzögerungen
Wadephul hat wie Merz und viele andere Minister auch wahrlich keine Zeit für Verzögerungen eingeplant. Die ersten zwei Wochen sind schon dicht geplant, die Reise mit Merz ist nur der Auftakt – der neue Kanzler hat auch schon verraten, dass Wadephul am Wochenende eine Reise nach Israel plant. Dass er auch mit seinem Ministerium selbst viel vor hat, macht er schon am Dienstagabend klar. Nach dem Dank und Lob für Baerbock („Mit Dalli Dalli würde ich sagen: Das war Spitze!“) zeigen die nächsten Sätze, dass er andere Schwerpunkte zu setzen gedenkt.
Deutsche Außenpolitik müsse konsequent auf die Interessen Deutschlands und Europas ausgerichtet werden, sagt Wadephul. Dies erfordere eine Konzentration auf das Wesentliche – „die Wahrung der Sicherheit, der Freiheit, des Wohlstandes Deutschlands und Europas“. Aufgrund geopolitischer Realitäten und weltweiter Krisen wolle er „eine grundnüchterne Prioritätensetzung“ vornehmen. „Wir müssen die Kraft haben, das Wichtigste auch als das Wichtigste zu benennen.“ Dann muss er schon wieder auf die Zeit achten – es ist kurz vor 22 Uhr, die erste Kabinettssitzung steht an und Wadephul verweist darauf, dass der neue Kanzler doch auf Pünktlichkeit bestehe.
Wadephul kommt kurze Zeit später im Kanzleramt an, wie auch die anderen neuen Minister. Das Kabinett tagt zum ersten Mal. Gemeinsame Fotos am ovalen Tisch und auf Treppen, vorbereitete erste Beschlüsse wie der Organisationserlass, mit dem Zuständigkeiten zwischen den Ministerien verschoben werden. Dass das Auswärtige Amt die Zuständigkeit für die Klimadiplomatie an das Umweltministerium unter den SPD-Minister Carsten Schneider wieder verliert, hat er bei seiner ersten Rede im neuen Haus noch bedauert. Tatendrang soll auch der Beschluss beweisen, 25 Beauftragten- und Koordinatorenposten der Bundesregierung zu streichen.

Die Union hatte im Wahlkampf das Ziel ausgegeben, die Hälfte der etwa 60 entsprechenden Posten zu streichen. Um beim Sparen bei sich selbst anzufangen, war das Motto. Laut dem Kabinettsbeschluss sollen mit sofortiger Wirkung jetzt unter anderem der Sonderbeauftragte für die Umsetzung der internationalen Initiative für mehr Transparenz im rohstoffgewinnenden Sektor, der Koordinator für die deutsche Luft- und Raumfahrt sowie der Meeresbeauftragte abgeschafft werden. Der neue Kanzler hat dann noch für den ersten gemeinsamen Abend im Kanzleramt ein Bierfass aus seiner sauerländischen Heimat kaltstellen lassen, um auf diesen Tag anzustoßen.
Die SPD ist noch nicht fertig mit dem Wählen
Doch so ganz ist diese Koalition noch nicht durch mit dem Wählen und Zählen. Es ist Mittwochmorgen, 9 Uhr. Die SPD-Fraktion kommt zusammen, um einen neuen Vorstand zu bestimmen. Trotz des schlechten Ergebnisses bei der Bundestagswahl schien die Stabilität in der geschrumpften SPD-Fraktion bislang groß. Doch inzwischen gibt es Zahlen, die das Ausmaß der Unruhe und des Grolls beschreiben. Die erste Zahl: 18. Eben jene Abgeordnete von CDU/CSU und SPD, die am Vortag nicht für Merz gestimmt hatten. Wie viele davon aus der SPD kommen – unklar. Man beteuert weiterhin, die SPD habe geschlossen für Merz gestimmt. Aber beweisen kann das niemand, weil die Wahl geheim war. Anke Rehlinger, die saarländische Ministerpräsidentin der SPD, bezeichnete die Abweichler als „egoistische Hasardeure“.
Und dann kommt am Mittwochmorgen noch eine Zahl des Misstrauens dazu, es ist wieder eine 18. Matthias Miersch wird von der Fraktion zu ihrem neuen Vorsitzenden gewählt, aber nur mit 83,2 Prozent. Von den 119 anwesenden Abgeordneten stimmen – ebenfalls in geheimer Wahl – 99 mit Ja, 18 mit Nein, und zwei enthalten sich. Verflixte 18 Stimmen.
Als Lars Klingbeil vor wenigen Wochen den Fraktionsvorsitz für sich beansprucht hatte und 85,6 Prozent erhielt, nannte er das ein „ehrliches Ergebnis“. Was ist nun also das Ergebnis von Miersch, das noch etwas schlechter ist?
Zum Vergleich: Rolf Mützenich erhielt sowohl 2019 als auch 2021 bei seiner Wahl zum Fraktionsvorsitzenden 97 Prozent. Dass Klingbeil nach dem Wahldebakel ihn zur Seite schob, um die ganze Macht in der SPD an sich zu ziehen, wurde als Notwendigkeit zwar akzeptiert, aber gut fanden es einige trotzdem nicht. So erklärte sich das „ehrliche Ergebnis“.
Das Ergebnis ist der nächste Dämpfer für Klingbeil
Und so darf man davon ausgehen, dass das mäßige Miersch-Ergebnis vor allem Klingbeil gilt. Zwar sah auf dem Papier alles gut aus: Klingbeil hatte sich mit den drei Strömungen auf Miersch als seinen Nachfolger verständigt. Aber offensichtlich sind nicht alle Abgeordneten einverstanden mit diesem Versuch des Durchregierens. Das zeigt sich auch am Wahlergebnis für Dirk Wiese, der künftig als Erster Parlamentarischer Geschäftsführer die Fraktion managen soll. Er erhält am Mittwoch nur 82,5 Prozent. Ein Sozialdemokrat, der beteuert, allen Personalvorschlägen von Merz bis Miersch zugestimmt zu haben, fasst die zwei Tage so zusammen: „Warum machen wir es uns selbst so schwer?“
Miersch, 56 Jahre alt, wird geschätzt in der Fraktion; bevor er Ende vergangenen Jahres Generalsekretär wurde, war er einer der stellvertretenden Vorsitzenden. Obwohl er anders als Klingbeil ein Parteilinker ist, gehört er inzwischen zu den engsten Vertrauten des neuen Vizekanzlers und Parteivorsitzenden. Klingbeil wird sich erhoffen, in Miersch einen Fraktionsvorsitzenden zu haben, der die 120 SPD-Abgeordneten auf einem regierungsfreundlichen Kurs hält. Es gibt aber immer mehr Stimmen in der SPD, die eine Aufarbeitung des Wahlergebnisses fordern und eine neue Aufstellung der Partei.
Diese Personen finden, dass Klingbeils Personalentscheidungen vor allem seiner eigenen Macht dienen. Ein Kabinett voller Leute, die überwiegend keine Regierungserfahrung haben, die außerdem jung sind – und Klingbeil nun viel Dankbarkeit entgegenbringen. Fest macht sich der Unmut unter denen, die nichts geworden sind, auch an der Person Hubertus Heil. Heil ist sehr beliebt unter den Abgeordneten, er gilt als fleißiger Sozialdemokrat, der viele Herzensprojekte der Partei auf die Strecke brachte. Aber für den bisherigen Arbeitsminister war unter Klingbeil kein Posten vorgesehen. Heil wäre gerne Fraktionsvorsitzender geworden. Klingbeil entscheid sich aber für Miersch, zu dem er persönlich ein deutlich besseres Verhältnis hat.
Termine helfen beim Umgang mit den Umständen
Genau wie Merz wird sich also auch sein Vizekanzler Gedanken darüber machen müssen, was von diesen zwei Tagen bleibt. Merz konnte vor diesen Gedanken seine Auslandsreise schieben, Klingbeil die Übernahme des Amtes von Parteifreund Jörg Kukies im Finanzministerium. Es sind ganz neue Themen, zu denen Klingbeil jetzt sprechfähig sein muss. Am Mittwochmittag verspricht er, Tempo zu machen für die Aufstellung des Haushalts 2025, denn den gibt es noch immer nicht. „Es ist mein Anspruch, dass wir im Kabinett vor der Sommerpause den Haushalt haben“, sagt der SPD-Chef. So sei es mit Merz verabredet.

Derzeit gilt nur eine vorläufige Haushaltsführung mit Ausgabenbeschränkungen, da nach dem Scheitern der Ampel-Regierung im vergangenen Jahr kein Haushalt mehr beschlossen wurde für das Jahr 2025. Klingbeil sagte außerdem, die europäischen Schuldenregeln würden einer massiven Ausweitung der Ausgaben für Investitionen und Verteidigung nicht im Wege stehen. „Deswegen wird es um Wege gehen, die wir gemeinsam mit unseren europäischen Partnern und den europäischen Institutionen finden, damit mehr investiert werden kann“, sagte Klingbeil. Er sei noch am Nachmittag mit europäischen Kollegen zu Telefonaten verabredet und werde zeitnah in Paris sein, um dort die ersten Gespräche zu führen.
Gespräche, überall Gespräche. Und sortiert werden muss sich auch allerorten. Es sind schon einige Stunden von Tag eins der Kanzlerschaft von Friedrich Merz vergangen, an den deutschen Grenzen haben sie davon aber noch nicht viel mitbekommen. In der Bundespolizeidirektion Berlin heißt es, man warte noch auf Anweisung des neuen Innenministers. Offensichtlich sei es ja der politische Wille von Alexander Dobrindt, in der Migrationspolitik zu verschärfen. Aber noch merke man nichts. „Wir machen unseren Job wie in den vergangenen Monaten auch“, sagt der Sprecher der Bundespolizeiinspektion Trier, Stefan Döhn. „Wir haben noch keine neue Instruktion. Wir machen weiter wie bisher.“
Am Nachmittag will Dobrindt im Innenministerium die neuen Vorgaben verkünden. Damit wie angekündigt künftig mehr Personen an den Grenzen zurückgewiesen werden können, dürfte die Bundespolizei dort mit mehr Personal verstärkt werden. Schon an der Grenze stationierte Grenzpolizisten werden nicht abgezogen, Schichten ausgeweitet. Dobrindt, die Regierung Merz will ein Zeichen setzen. Dazu gehört auch die Zurückweisung von Asylsuchenden, die aber in Abstimmung mit den europäischen Nachbarn stattfinden soll. Auch hier also: Gespräche.
Macron wehrt die Frage nach Details ab
Von Paris aus geht es am Nachmittag für Merz in Richtung Osten. Über Deutschland hinweg, nach Warschau. Polen hat eine gemeinsame Grenze mit der Ukraine. Hier ist Merz dem Krieg, den Russland führt, noch viel näher als an der Seine. Schon Monate vor der Bundestagswahl war Merz nach Kiew gereist, um zu zeigen, wie wichtig es ihm ist, die Ukraine zu unterstützen und den Krieg zu beenden. Ein gewisser Johann Wadephul war Teil der kleinen Delegation. Heute ist klar: Da nahm Merz den Mann mit, den er zum Außenminister ernennen möchte.

Schon am Vormittag, in Paris, ist die Ukraine das große Thema. Merz macht deutlich, welche Bedeutung die Amerikaner dabei weiterhin haben, auch wenn die Europäer und allen voran Deutschland, Frankreich, Polen und Großbritannien sich gemeinsam stärker koordinieren wollen. Der Kanzler lässt keinen Zweifel, dass sowohl die Beendigung des Krieges als auch die Überwachung eines Friedens nur mit Washington möglich sein wird. Das gilt nach den Worten von Merz im Übrigen auch für die Frage des atomaren Schutzschirms für Europa. Ja, man wolle mit der Atommacht Frankreich darüber reden. Aber entscheidend bleibt für Merz der amerikanische Atomschirm.
Auch nach Waffen, die Deutschland liefern wolle, wird Merz gefragt, vielmehr: nach dem deutschen Marschflugkörper Taurus. Wie es mit dessen Lieferung an Kiew aussehe. Bevor es zu Details kommt, moderiert Macron ab. Man werde nun nicht in jeder Pressekonferenz über einzelne Waffensysteme reden. Es könne ja sein, sagt der französische Präsident, dass Russland zuhöre.