Der 8. Mai ist kein Tag zum Feiern

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Vor 80 Jahren schwiegen an den Fronten die Waffen. Doch das Sterben ging vielerorts weiter. Die deutsche Wehrmacht kapitulierte bedingungslos. Aber bis zuletzt kämpften Hunderttausende weiter – vom Kurlandkessel bis zu den Atlantikfestungen, von französischen Freiwilligen der Waffen-SS, die Berlin verteidigten, bis zu freiwilligen Todespiloten, die sich in beträchtlicher Zahl meldeten, um feindliche Bomber zu rammen. Auf der Flucht über Land und See wie bei den gezielten alliierten Luftangriffen auf Innenstädte kamen zahllose Kinder, Frauen und Männer um.

Das unfassbare Terrorregime, das auch die eigenen Staatsbürger systematisch in den Tod schickte, endete abrupt, wurde im Osten allerdings durch eine andere Gewaltherrschaft ersetzt. Der teils fanatische Kampf bis zuletzt endete mit der militärischen Kapitulation, es gab aber bemerkenswerterweise kaum eine Spur von Guerilla-Krieg oder Widerstand gegen die Siegermächte, die Deutschland besetzten, aber nicht annektierten.

Es gab keine Stunde null

Das verwüstete Land bestand weiter. Und eine Stunde null gab es auch in personeller Hinsicht nicht wirklich. Wie auch? So begann am 8. Mai auch die unglaubliche Erfolgsgeschichte – aus dem buchstäblichen und moralischen Trümmerfeld ist ein demokratisches, rechtsstaatliches, föderales, später sogar wiedervereinigtes Land und wieder ein angesehenes Mitglied der internationalen Gemeinschaft geworden.

Dass in den ersten Jahren und Jahrzehnten der Blick zurück, die Beschäftigung mit der eigenen Schuld nicht besonders ausgeprägt war, kann nicht verwundern. Der Blick richtete sich nach vorn. Später konnte man – und wollte es wohl auch gar nicht erst – wahrhaben, woran man in diesen zwölf Jahren Anteil hatte.

Wenn heute, nach langen Jahren fortdauernder Beschäftigung mit der schlimmen Vergangenheit, das Erreichte wieder von innen und außen bedroht ist, so liegt die Lösung nicht in Befreiungsfeiern an diesem 8. Mai. Die Sieger wollten Deutschland nicht befreien, wollten auch nicht zuvörderst den Massenmord an den europäischen Juden und an jedem, den das Regime für nicht lebenswert hielt, stoppen – sie wollten ihren Feind besiegen.

Jedes Land mag seinen Sieg über Hitler-Deutschland für sich feiern. Deutschland sollte aber nicht, auch wenn das einige Bundesländer schon getan haben, das russische Narrativ von der Befreiung weiterspinnen, das aktuell in der Ukraine, die Moskau von „Nazis“ zu befreien vorgibt, als Rechtfertigung eines mörderischen Krieges dient.

Etwas Abgeschmacktes

Darüber hinaus hat es etwas Abgeschmacktes, dem ganzen Land nachträglich zum Jahrestag des Kriegsendes ein Gedenken unter einem Begriff zu verordnen, der nicht das ganze Bild erfasst. In der Staatspraxis des Erinnerns war man sich früh einig, dass der Tag des Kriegsendes natürlich auch einer der Befreiung vom barbarischen NS-Regime war, aber eben vielen alles andere als Freiheit brachte – und für uns Deutsche kein Tag zum Feiern sei. Theodor Heuss brachte es früh auf den Punkt, als er den 8. Mai 1945 die „tragischste und fragwürdigste Paradoxie der Geschichte“ nannte – „weil wir erlöst und vernichtet in einem gewesen sind“.

Nun ist die Sicht der Erlebnisgeneration für die Enkel nicht bindend. Doch fällt auf, dass die Parole des „Nie wieder“ immer mehr zu einer Leerformel geworden ist. Damit lässt sich leicht und pauschal alles Mögliche unterfüttern, von Brandmauern bis zur Staatsräson. Man selbst ist fein raus. Vor dem Schuldenberg der Vorväter steht man als der Wächter des Guten und Wahren da.

Gewiss, über das Ausmaß der Schreckensherrschaft ist im Lauf der Zeit immer mehr bekannt geworden. Doch interessanter als immer neue Schuldvorwürfe an eine Generation, in der tatsächlich kaum einer auf die eine oder andere Weise irgendwann nicht mitgetan hat, ist die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass auch in vergleichsweise liberalen Zeiten aufgewachsene und ausgebildete Juristen, Mediziner, Theologen willfährige Diener totalitärer Herrschaft wurden. Wann und wie ist was gekippt?

Und ist das vielleicht unserem heutigen Verhalten nicht unähnlich? Inwiefern die Aussicht auf Karriere und Macht vermeintliche Werte vergessen oder umdeuten lässt, ist eine unbequeme Frage, die sich auch heute stellt. Der Mut, der beim Blick vom sicheren Wohlstandshügel per Ferndiagnose von den Altvorderen im Nachhinein leichthin eingefordert wird, fehlt heute jedenfalls schon bei den kleinsten Dingen.

So sollte denn der Tag des Kriegsendes in stillem Gedenken und mit dem festen Willen begangen werden, nach innen wie außen stets wach und widerstandsfähig gegen die mörderische Ausgrenzung anderer zu sein.