„Wir alle sind Kinder des 8. Mai“

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80 Jahre nach der Befreiung Deutschlands am 8. Mai 1945 hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei einer Gedenkstunde im Bundestag den alliierten Soldaten und der Widerstandsbewegung gegen den Nationalsozialismus gedankt. Deutschland wisse aber auch, welchen Beitrag die Rote Armee dabei geleistet habe, Russen, Ukrainer, Weißrussen und alle, die in ihr gekämpft haben. Mindestens 13 Millionen dieser Soldaten und noch einmal so viele Zivilisten verloren ihr Leben. Die Rote Armee hat Auschwitz befreit.

„Aber gerade deshalb treten wir den heutigen Geschichtslügen des Kremls entschieden entgegen“, sagte der Bundespräsident. Auch wenn das morgen bei den Siegesfeiern in Moskau wieder behauptet werde: Der Krieg gegen die Ukraine sei eben keine Fortsetzung des Kampfes gegen den Faschismus. Putins Angriffskrieg, sein Feldzug gegen ein freies, demokratisches Land, habe nichts gemein mit dem Kampf gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft im Zweiten Weltkrieg. „Diese Geschichtslüge ist nichts als eine Verbrämung imperialen Wahns, schweren Unrechts und schwerster Verbrechen“, sagte Steinmeier. Der russische und der belarussische Botschafter waren wegen des Ukrainekriegs nicht zur Gedenkstunde in den Bundestag eingeladen worden.

Der von Hitlerdeutschland entfesselte Zweite Weltkrieg forderte nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 50 und über 60 Millionen Todesopfer auf der ganzen Welt, die Mehrheit davon Zivilisten. Besonders schwer traf es die Sowjetunion mit rund 27 Millionen Toten. Deutschland verlor etwa 6,3 Millionen Menschen, darunter viele Soldaten.

Ein Tag als Teil der gesamtdeutschen Identität

Der Krieg endete in Europa mit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945. Zuvor hatten britische und amerikanische Truppen vom Westen her und sowjetische Soldaten aus dem Osten in verlustreichen Kämpfen weite Teile Deutschlands besetzt.

Der 8. Mai ist aus Steinmeiers Sicht als Tag der Befreiung Kern der gesamtdeutschen Identität geworden. Und doch könnten die Deutschen diesen 8. Mai nicht in ruhiger Selbstgewissheit begehen. „Denn wir spüren: Freiheit ist nicht das große Finale der Geschichte. Freiheit ist nicht für alle Zeit garantiert“, sagte er. Heute müsse nicht mehr gefragt werden, wer Deutschland am 8. Mai befreit habe, sondern wie es frei bleiben könne.

„Der doppelte Epochenbruch“, der Angriffskrieg Russlands, der Wertebruch Amerikas, sie markierten „das Ende dieses langen 20. Jahrhunderts“. Gerade deshalb dürfe es kein „schlafwandlerisches Wanken“ geben. „Wir wissen, wohin Abschottung führt, aggressiver Nationalismus und die Verachtung von demokratischen Institutionen“, mahnte er.

Heute sei Deutschland ein anderes Land als vor 80 oder auch vor 40 Jahren. Ein Land, das das große Glück der Friedlichen Revolution und der Wiedervereinigung erleben durfte, ein vielfältiges, ein offenes Land. Die deutsche Geschichte liefere nicht nur die Blaupause, um eine Katastrophe zu verhindern. „Sie erzählt uns vom Wunder der Versöhnung zwischen Deutschland und Israel und davon, dass jüdisches Leben wieder Teil unseres Landes werden konnte“, sagte Steinmeier kurz vor einem Besuch des israelischen Präsidenten Itzchak Herzog am Sonntag. Nach dem totalen wirtschaftlichen und moralischen Zusammenbruch habe sich Deutschland international wieder Respekt und Sympathie erarbeitet, das alles habe niemand für möglich gehalten. „Wer hätte all das am 8. Mai 1945 für möglich gehalten?“, sagte er.

„Von außen kann uns heute niemand die Freiheit schenken“

„Wir alle sind Kinder des 8. Mai“, zitierte der Bundespräsident Jürgen Habermas, mit dem er seit Jahren in einem Austausch steht. Entschieden wandte der Bundespräsident sich gegen eine Schlussstrichdebatte und appellierte dazu, auf Erfahrung und die „demokratischen Instinkte“ zu vertrauen und nicht in Ängstlichkeit zu erstarren. „Von außen kann uns heute niemand die Freiheit schenken. Wir müssen selbst für sie einstehen. Wir wissen, was zu tun ist“, sagte er.

Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) hatte zuvor an das Leid der Mädchen und Frauen erinnert, die im Krieg vergewaltigt worden waren. „Wir wollen nicht vergessen“, sagte sie. Klöckner las aus einem Brief vor, den die Tochter einer vergewaltigten Frau an den Bundestag geschickt hatte. In diesem berichtete die Frau über die leidvollen Kriegserfahrungen ihrer Familie und fragte, wann die Schicksale ihrer Mutter und anderer Frauen endlich gewürdigt würden. Klöckner sagte, der Tag dazu sei heute. Sie begrüßte die Absenderin des Briefs zur Gedenkstunde im Bundestag.

Vor der Gedenkstunde gab es einen ökumenischen Gottesdienst in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche sowie eine Kranzniederlegung an der Neuen Wache mit den Vertretern der Verfassungsorgane.

Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkriegs im Bundestag: der neue Bundeskanzler Merz, Bundestagspräsidentin Klöckern, Bundespräsident Steinmeier und seine Ehefrau am Donnerstag im Plenum
Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkriegs im Bundestag: der neue Bundeskanzler Merz, Bundestagspräsidentin Klöckern, Bundespräsident Steinmeier und seine Ehefrau am Donnerstag im PlenumAFP

Der Sieg über das nationalsozialistische Deutschland wird auch in den Hauptstädten der Siegermächte gefeiert. Die größte Militärparade findet in Moskau statt – aber erst am morgigen Freitag, weil die Kapitulationsurkunde im sowjetischen Hauptquartier in Berlin-Karlshorst ein zweites Mal unterzeichnet wurde. Da war es in Moskau schon nach Mitternacht. In London gab es am Montag bereits eine kleinere Parade, in Paris gibt es eine Gedenkfeier am Triumphbogen.