Es war weit nach Mitternacht, die meisten Gäste des F.A.Z.-Empfangs waren schon gegangen, die Kellner räumten auf, da setzte Günther Nonnenmacher sich ans Klavier. Er spielte, als hätte er sein ganzes Leben lang nichts anderes getan und nichts anderes tun wollen. Nach einem langen Abend mit Gesprächen über die Politik in Deutschland und der Welt kam der Musiker in ihm zum Vorschein, der in jungen Jahren mit einer Band durch die Clubs gezogen war und der auch noch Jahrzehnte später nach der Arbeit zu Hause am Flügel den Tag ausklingen ließ.
Zum Glück für diese Zeitung zerrten aber noch weitere Leidenschaften an Nonnenmacher, der auch den florierenden Handwerksbetrieb des Vaters hätte übernehmen können: das Interesse an der Wissenschaft und die Begeisterung für den Journalismus. In Nonnenmachers Fall gingen sie eine äußerst fruchtbare Verbindung ein, die sich in allen Artikeln aus seiner Feder zeigte, und nicht nur dort.
Gerüstet für die Bohrungen zum Kern der Dinge und den Ursachen der Ereignisse hatte sich Nonnenmacher nach dem Wehrdienst in einem Studium der Politikwissenschaft, Geschichte und Philosophie in Freiburg, Frankfurt und Heidelberg. Das Magisterexamen legte er 1973 ab. Zwei Jahre später folgte die Promotion bei Dolf Sternberger, der immer Ausschau nach geeigneten Kandidaten für die Redaktion der F.A.Z. hielt; der Zeitung war Sternberger als Berater des Herausgebergremiums verbunden.
Doch noch ließ die Universität Nonnenmacher nicht los. Mehrere Jahre lang war er wissenschaftlicher Assistent für das Fach Politikwissenschaft an der Gesamthochschule Wuppertal, wo er sich mit einer Arbeit über die politische Philosophie im 17. und 18. Jahrhundert habilitierte. Tür und Tor zum Aufstieg in den Professorenstand standen ihm damit offen – doch Nonnenmacher bog in den Journalismus ab, der ihn mindestens so reizte.
Im Oktober 1982 trat der gebürtige Karlsruher in die Politische Redaktion der F.A.Z. ein. Nur vier Jahre später gaben die damaligen politischen Herausgeber Fritz Ullrich Fack und Johann Georg Reißmüller Nonnenmacher den „schönsten Job, den die Zeitung zu vergeben hat“, wie er später sagte: Er wurde Außenpolitikchef. Aber das war noch nicht der Zenit seiner journalistischen Karriere. Anfang 1994 wurde Nm., so sein Kürzel, als Nachfolger Facks in das Herausgebergremium der Zeitung berufen, zur selben Zeit wie Frank Schirrmacher, der Joachim Fest folgte.
Herausgeber – das ist der wichtigste und verantwortungsvollste „Job“, den die Zeitung zu vergeben hat, aber höchstens der zweitschönste. Ein anderes ehemaliges Mitglied des Herausgebergremiums sagte einmal aus eigener langjähriger Erfahrung, Herausgeberjahre müssten dreifach gezählt werden.
Nonnenmacher erlebte in den Achtziger- und Neunzigerjahren immerhin noch die goldene Ära, in denen die Zeitung aus dem Vollen schöpfte – und ihre Herausgeber sich auf den Journalismus konzentrieren konnten. Auch damals mussten die Zeitungshäuser Krisen durchstehen, wenn infolge von konjunkturellen Einbrüchen die Einnahmen zurückgingen. Doch das althergebrachte Geschäftsmodell, das in erheblichem Maße vom Anzeigengeschäft profitierte, blieb intakt, bis die digitale Revolution es um die Jahrtausendwende in seinen Grundfesten erschütterte.
Seither können und müssen immer wieder neue Produkte konzipiert und die dafür erforderlichen Herstellungsprozesse, Organisationsstrukturen und Redaktionssysteme angepasst werden. Waren die Herausgeber früher vor allem Publizisten, so sind sie, wie die Chefs in anderen Redaktionen, nun in nicht geringerem Maße auch Redaktions- und Projektmanager.
Die schon damals anschwellende Flut der Powerpoint-Präsentationen in Meetings zu Strategien und Synergien ertrug Nonnenmacher als notwendiges Übel. Lieber aber kümmerte er sich in der täglichen Zeitungsarbeit darum, dass die Voraussetzung für das Gelingen aller Pläne und Konzepte erfüllt wird: die journalistische Qualität. Deren Wahrung und Steigerung hatte sich auch Nonnenmacher mit Haut und Haaren verschrieben. Stets ging er der eigenen Truppe als Beispiel voran, wie man guten Journalismus macht.
Davon profitierten auch die Studenten der Kommunikationswissenschaften an der Universität Leipzig, an der Nonnenmacher von 2009 an als Honorarprofessor lehrte, was Qualitätsjournalismus ist. Tipps, wie sich mit weitschweifigen Reportagen Journalistenpreise ergattern lassen, durfte man von Nonnenmacher nicht erwarten. Wer jedoch lernen wollte, tiefgehende Analysen des Politischen verständlich aufzuschreiben, konnte keinen besseren Lehrer finden.
Im Grunde brauchte man dazu nur seine Artikel zu lesen. Sie ließen kein Thema aus, das nach gründlicher Durchleuchtung verlangte, auch nicht das oft kleinteilige Hickhack der Innenpolitik. Weit mehr interessierte ihn aber das „große Spiel“ der Staaten um Macht und Einfluss in der Welt, das er mit den Augen des Realisten verfolgte und kommentierte. Die europäische Integration hatte in Nonnenmacher einen überzeugten, aber auch kritischen Anhänger. Die Einigung Europas betrachtete er als ein zwingendes Gebot der politischen Vernunft. Die Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich waren für ihn sogar eine Herzensangelegenheit: Seine Frau stammt aus Frankreich.
Es wurde ihm zu einer zweiten Heimat, in der er auch zur letzten Ruhe gebettet werden wird. Über Frankreich konnte er so kenntnisreich schreiben wie wenige andere Deutsche. 2007 ernannte der damalige französische Präsident Sarkozy Nonnenmacher zum Offizier der Ehrenlegion. Der französische Botschafter in Deutschland, der die Auszeichnung überreichte, sagte damals, französisches Tun und Reden werde in der F.A.Z. stets zuverlässig wiedergegeben und fair und klug kommentiert – „zum Glück“ auch mit einem kritischen Blick.
Nonnenmacher war freilich nicht nur ein hellsichtiger Beobachter und Durchdringer des Politischen, sondern auch ein Meister in einer Disziplin, die den Lesern verborgen bleibt und leider immer mehr dem Zeitdruck der digitalen Atemlosigkeit zum Opfer fällt: dem Redigieren. Texte, die über Nonnenmachers Schreibtisch gingen, kamen kaum ohne Änderungen und Anmerkungen zurück zum Verfasser. Manche Artikel strotzten sogar vor Redigaturen. Alle waren danach besser, inhaltlich wie sprachlich. Obwohl Nonnenmacher selbst viele Jahre auf Universitäten verbracht hatte, vielleicht aber auch gerade deshalb, trieb er Volontären und Jungredakteuren sofort die akademisch gestelzte Schreibe aus, die sie dort gelernt hatten.
Den Tenor von Meinungsartikeln änderte Nonnenmacher aber selbst dann nicht, wenn er nicht ganz die Ansichten des Verfassers teilte. Seinem liberalen Naturell entsprechend galt für ihn die Devise: schreiben und schreiben lassen – solange dabei nicht mutwillig die weiten Grenzen der Blattlinie verletzt wurden. Immer aber verlangte er, dass die Argumentation überzeugend und noch nicht abgenutzt ist. Mit schon stark gebrauchten Gedanken brauchte man ihm nicht zu kommen.
Nonnenmachers eigene Leitartikel verschwiegen nicht, dass sie ein Autor geschrieben hatte, den in einer gründlichen Auseinandersetzung mit der politischen Ideengeschichte am meisten die Werte und Anschauungen des Liberalismus überzeugt hatten, vom Menschenbild bis zu den Ordnungsmodellen für den Staat und die Wirtschaft. Gerne debattierte er mit auf die Stirn geschobener Lesebrille und gelockerter Krawatte auch auf von der F.A.Z. veranstalteten Konferenzen und Tagungen über solche grundsätzliche Themen.
Allenfalls in Notfällen hat er andere spüren lassen, dass er ihnen intellektuell überlegen war. Selbst in asymmetrischen Duellen wollte er überzeugen, nicht überwältigen. Aus der Ferne mochte er mitunter unnahbar wirken. Wer mit ihm über Jahre zusammenarbeitete, wusste jedoch, dass das ein Schutzmechanismus für ein sensibles Gemüt war.
Auf Nonnenmachers Kollegialität und Freundschaft konnte man sich unbedingt verlassen, wie auch auf seinen mitunter lausbübischen Humor. Nur wenige schafften es, ihn zornig zu machen. Streit gesucht hat er nicht, doch floh er auch nicht vor Konflikten, wenn diese ausgefochten werden mussten.
Im Sommer 2014 wäre Nonnenmacher in den Ruhestand gegangen – wenn nicht im Juni völlig überraschend der damals erst 54 Jahre alte Schirrmacher gestorben wäre. Auf Bitten der anderen Herausgeber kümmerte Nonnenmacher sich bis zum Jahresende um das verwaiste Feuilleton, das in ihm schon immer einen aufmerksamen Leser gehabt hatte. Fast jeden Abend erzählte er von seinen Erlebnissen. Ende des Jahres übergab Nonnenmacher den Taktstock an Jürgen Kaube.
2018 verlieh Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier Nonnenmacher den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland. Nonnenmacher habe vor allem die außenpolitische Berichterstattung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung geprägt, die wie kaum eine andere unter den deutschen Tageszeitungen für Qualitätsjournalismus stehe. In einer Mitteilung des Bundespräsidialamtes wurde Nonnenmachers Lehrtätigkeit als Honorarprofessor in Leipzig hervorgehoben: „In Zeiten von Fake News und ,alternativen Fakten‘ ist diese Vermittlung von journalistischem Handwerk und Ethos wichtiger denn je.“
Das Loslassen fiel Nonnenmacher anders als manchem anderen Journalisten nicht schwer. Natürlich verfolgte er auch im Ruhestand, wie die Zeitung sich schlägt, und freute sich über jedes neue Talent, das ihm auffiel. Selbst griff er aber meistens nur dann zur Feder, wenn er von der Redaktion um einen Essay für einen der Wochentitel oder eine Rezension gebeten wurde, was er gerne und in gewohnter Schnelligkeit erledigte.
Doch nun war für ihn das Wichtigste die Familie, wie der mehrfache Großvater nicht nur einmal sagte. Mit ihr hätte er gerne mehr Zeit im französischen Süden verbracht, als es ihm vergönnt war. Diesen Plan durchkreuzte jedoch eine Krankheit, die zwischenzeitlich besiegt schien, sich aber nicht geschlagen gab. Am Mittwoch ist Günther Nonnenmacher im siebenundsiebzigsten Lebensjahr in Offenbach gestorben. Er war ein freier Geist, der bei der F.A.Z. zu deren Nutz und Frommen nicht nur seine eigenen Begabungen entfalten konnte, sondern dies auch zahlreichen Kolleginnen und Kollegen ermöglichte. Viele haben ihm vieles zu verdanken. Die Verdienste, die Günther Nonnenmacher sich um die Frankfurter Allgemeine Zeitung erworben hat, werden unvergessen bleiben.