Zweiter Weltkrieg: Putins Version der Geschichte

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Ende April hat Russlands Außenministerium zum Jahrestag des Kriegsendes einen Bericht zur Lage in Europa veröffentlicht, der ein düsteres Bild zeichnet. Achtzig Jahre nach dem Sieg über Deutschland, so heißt es darin, erhebe fast überall auf dem Kontinent der Nazismus wieder sein Haupt. Eine Schlüsselrolle dabei spiele „der immer totalitärere europäische Überbau, die Europäische Union, die bewusst russophobe Regimes großzieht“ und diese zur „Verherrlichung von SS-Verbrechern“ anhalte.

Russlands Außenministerium wirft der EU vor, sie betreibe eine „Umschreibung der Geschichte“ und „Revision der Gründe und Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs“. Die Europäer, die fast alle „Beteiligte bei den monströsen Verbrechen des Dritten Reichs“ gewesen seien, wollten sich so von ihren Sünden weißwaschen und gleichzeitig auf Russland einschlagen, das unbeugsam die historische Wahrheit verteidige.

Dieser Text ist nur ein Beispiel für unzählige ähnliche Äußerungen, mit denen die russische Öffentlichkeit seit Monaten geflutet wird. Wie so viele Produkte der russischen Propaganda ist er eine Aneinanderreihung von Lügen und Halbwahrheiten. Es wäre indes ein Fehler, sie deshalb nicht ernst zu nehmen. Denn das Regime betrachtet die Geschichte als Front in seinem hybriden Krieg gegen den Westen. Aus Sicht des Kremls ist die Durchsetzung seiner Version der Vergangenheit eine Frage der nationalen Sicherheit.

Kein anderes Thema hat dabei eine solche Bedeutung wie der Krieg gegen Hitlerdeutschland. Er soll helfen, die Herrschaft Wladimir Putins zu legitimieren, und den Krieg gegen die Ukraine rechtfertigen, der als Fortsetzung des Überlebenskampfes der Jahre 1941 bis 1945 dargestellt wird. Das Regime stellt den „Großen Vaterländischen Krieg“, wie er in Russland heißt, in den Mittelpunkt seiner Propaganda, weil er für viele Russen das wichtigste Ereignis ihrer Geschichte ist.

Demonstration eines Machtanspruchs

Das liegt nicht an staatlicher Propaganda: Angesichts der unvorstellbaren Gräueltaten der deutschen Besatzer und der großen Zahl gefallener Soldaten der sowjetischen Armee entspringt das Gedenken an die Opfer des Zweiten Weltkriegs einem echten Bedürfnis der Gesellschaft. Von den bis zu 27 Millionen sowjetischen Kriegstoten war die Mehrzahl Zivilisten, sie waren Opfer eines rassistischen Vernichtungskriegs.

Die Feiern zum „Tag des Sieges“ am 9. Mai haben als einziges öffentliches Ritual der Sowjetunion deren Ende überstanden, weil sie in der Bevölkerung verwurzelt sind. Lange galt das über Staatsgrenzen hinweg. In der Ukraine und Belarus, die im Gegensatz zu Russland ganz unter deutscher Okkupation standen, war die Zahl der Opfer nationalsozialistischer Verbrechen besonders hoch.

Aber Putins Regime macht das Kriegsgedenken zu einer Demonstration eines großrussischen Machtanspruchs: Alle sowjetischen Opfer werden als Russen vereinnahmt, während aus dem Beitrag der Sowjetunion zum Sieg über Deutschland der Anspruch einer Vorherrschaft Moskaus über den Osten Europas abgeleitet wird. Kritik an der vom Massenmörder Stalin geführten Sowjetunion wird als Verleumdung Russlands abgewehrt.

Damit hat der Kreml nicht erst zu Beginn der Aggression gegen die ­Ukraine 2014 begonnen. Zuvor war der „Kampf um die historische Wahrheit“ vor allem gegen die baltischen Staaten und Polen gerichtet, weil dort die sowjetische Besetzung 1945 nicht als Befreiung, sondern als Beginn der nächsten Fremdherrschaft gesehen wird. Nach der demokratischen Revolution in Kiew kam die angeblich Nazis verherrlichende ­Ukraine als Hauptziel der Attacken hinzu. Sie bereiteten propagandistisch den Boden für den Angriffskrieg.

Die Schwierigkeit, angemessen zu reagieren

In beiden Fällen war die Botschaft auch an die Westeuropäer gerichtet. Damit sollten jene osteuropäischen Länder diskreditiert werden, die für eine härtere – und wie vielen zu spät bewusst wurde: realistische – Haltung gegenüber dem Kreml-Regime eintraten. Zudem sollte die Vorstellung verfestigt werden, allein Russland habe schlimmste Gewalt erfahren. Das funktionierte gerade in Deutschland, wo bis 2022 selbst einige führende Politiker die historische Verantwortung gegenüber den Völkern Osteuropas mit einer besonderen Verantwortung gegenüber Russland gleichgesetzt haben.

Es ist ein Warnsignal, dass die Kreml-Propaganda nun auch Westeuropa zum Hort eines wiederauferstandenen Nationalsozialismus erklärt. Das ist nicht nur eine rhetorische, sondern auch eine politische Eskalation. Darauf angemessen zu reagieren, ist schwierig – gerade im Umfeld symbolisch aufgeladener Gedenktage. Wie weist man die zynische Geschichtsklitterung des Kremls zurück, ohne ihm gleichzeitig Material für seine Behauptung zu liefern, im Westen würden die russischen Kriegsopfer nicht respektiert?