Sie sind „Verwahrte“, nicht Gefangene

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Als Stefan Mollner am Abend im Fernsehen sieht, dass Indien Pakistan angreift, ahnt er schon, dass die Abschiebeflüge ausfallen würden, die für diesen Morgen und den folgenden Tag geplant sind. Insgesamt fünf Insassen der Abschiebehaft, die Mollner im rheinland-pfälzischen Ingelheim leitet, sollten zurück in ihr Heimatland gebracht werden. Aufgrund der Sicherheitslage können derzeit keine Flugzeuge in Pakistan laden. Wann die Abschiebungen erfolgen, ist ungewiss.

Am Tag nach der Wahl von Friedrich Merz zum Bundeskanzler gibt es also erst mal weniger Abschiebungen als geplant, nicht mehr. Im Wahlkampf hatte Merz gefordert, dass „tägliche Abschiebungen“ erfolgen sollten, und eine Er­höhung der Kapazitäten in den Unterkünften angekündigt. Was der Verwaltungsbeamte Mollner davon hält, will er nicht sagen. Seine private Meinung tue nichts zur Sache.

Er lässt aber keinen Zweifel daran, wie kompliziert und langwierig Abschiebungen sind. Es fängt damit an, dass die ei­gentlichen Verfahren in der Hand kommunaler Ausländerbehörden liegen und die Abschiebehaftanstalten von den Bundesländern betrieben werden. Der Bund wiederum ermöglicht, dass Herkunftsländer Personen auch wieder zurücknehmen, und organisiert die Abschiebeflüge selbst. Abschiebungen erfordern föderales Fingerspitzengefühl.

Handys sind an Schleuse eins verboten

Die „Gewahrsamseinrichtung für Ausreisepflichtige des Landes Rheinland-Pfalz“, so der offizielle Titel der Abschiebehaft in Ingelheim, verfügt über 40 Plätze. Das ist für ein kleineres Bundesland wie Rheinland-Pfalz relativ viel. Das Saarland nutzt die Einrichtung mit (acht Plätze sind für die Nachbarn reserviert), Nordrhein-Westfalen mietet fünf Plätze, Thüringen einen. Im Vergleich zur Zahl von rund 20.000 Abschiebungen, die 2024 durchgeführt wurden, gibt es bundesweit verhältnismäßig wenige Haftplätze für Ausreisepflichtige.

Von außen sieht die Abschiebehaft aus wie ein Gefängnis. Hohe Mauern aus Beton, darauf Stacheldraht. Wer durch die grüne Tür am Eingang geht, kommt in die erste Schleuse. Handys sind von hier an verboten. Nach einem Metalldetektor und weiteren Türen kommt eine weitere Schleuse. Hier wird vermerkt, was eine Person bei sich führt. Viele wollen aber erst mal wissen, wo sie genau sind. Wenn die freundliche Beamtin hinter dem Tresen darauf antwortet, dass sie in einem „Deportation Center“ sind, geraten manche in Panik.

Der Flur im geschlossenen Trakt der Männer in der Gewahrsamseinrichtung.
Der Flur im geschlossenen Trakt der Männer in der Gewahrsamseinrichtung.Sophie Boyer

„Die Leute, die hier ankommen, sind meist direkt aus dem Leben gerissen worden“, sagt sie. Einmal habe ei­ner einen Topf mit Essensresten dabei gehabt, manche tragen einen Blaumann, weil sie direkt von der Arbeit kommen. Andere waren auf dem Weg zum Einkaufen. Davon zeugt eine große Rewe-Tasche, gefüllt mit leeren Pfandflaschen. Auf zwei Zetteln, die angehängt sind, steht, wem sie gehören. Alles hat seine Ordnung. Was in eine Zelle passt und nicht als gefährlich eingestuft wird, kann grundsätzlich mitkommen.

Der Grund für den Aufenthalt ist keine Straftat

Die Mitarbeiter sprechen nicht von Gefangenen oder Insassen, sondern von „Verwahrten“. Es klingt, als würden hier Wertgegenstände eingelagert, nicht Freiheit entzogen. Gleichwohl ist die sprach­liche Abgrenzung wichtig. Denn es handelt sich nicht um eine Strafhaft, sondern eine Verwaltungshaft. Mancher hat sich zwar etwas zuschulden kommen lassen und soll deshalb abgeschoben werden, das ist aber nicht der Grund für den Freiheitsentzug. Festgehalten werden die Personen, um eine reibungslose Abschiebung sicherzustellen.

Die Neuankömmlinge werden über den Hof zu dem eigentlichen Haftgebäude geführt. Wieder gehen sie durch eine Schleuse. Im Erdgeschoss geht es zu zwei Fluren, links die Frauen, rechts die Männer, oben zwei weitere Flure für Männer. Wer hier festgehalten wird, kann entscheiden, ob er in einer geschlossenen Zelle (manche nutzen das gern, heißt es, sie wollen für sich sein) oder auf einem der offenen Flure sein möchte, dort kann sich jeder zwischen 7 und 22 Uhr frei bewegen.

Zwei Telefonzellen in der Gewahrsamseinrichtung, daran Zettel mit Informationen in englischer und arabischer Sprache
Zwei Telefonzellen in der Gewahrsamseinrichtung, daran Zettel mit Informationen in englischer und arabischer SpracheSophie Boyer

Jeder hat ein eigenes Zimmer. Darin ein Bett, 90 Zentimeter breit, ein Schrank, ein kleiner Fernseher mit internationalen Sendern, ein Aschenbecher, ein Telefon, mit dem gegen Zahlung auch raustelefoniert werden kann, eine separate Toilette, ein Waschbecken – und ein normal großes Fenster, das sich öffnen lässt. Erst kommen ein engmaschiges Gitter, dann weitere Stangen.

Sicherheit nach außen, Freiheit nach innen?

Anstaltsleiter Mollner sagt: „Viel Sicherheit nach außen ermöglicht mehr Freiheit nach innen“. Es gibt Räume, um Sport zu machen, um zu beten, eine Art Gemeinschaftsraum, von dem aus die Sozialarbeiter Spiele, Bücher und DVDs verleihen. Darin ist eine kleine Küche, in der an manchen Tagen auch gemeinsam gekocht wird. Einmal die Woche dürfen die Insassen zum Kiosk, um sich von ihrem Taschengeld (26,90 Euro pro Woche) Süßigkeiten, Tabak oder Kaffee zu kaufen.

Anders als im Gefängnis wissen die meisten, die in Ingelheim ankommen, nicht, wie lange sie bleiben müssen. Im Schnitt sind es 27 Tage. Manchmal klappt die Abschiebung in 48 Stunden, manchmal dauert es mehrere Monate. Die Insassen befinden sich in einer Extremsituation. „Für die einen ist es die Endstation, das merkt man an der Resignation, die anderen haben noch immer Hoffnung“, sagt eine Sozialarbeiterin. Immer wieder ist sie, wie sie sagt, überrascht, dass die Insassen sich anders verhalten, als es ihre Akten erwarten ließen. „Manche, die vorher als gewaltbereit auffielen, sind hier ganz friedlich.“ Anstaltsleiter Mollner führt das auch darauf zurück, dass der Umgangston in der Einrichtung freundlich, aber die Regeln klar seien. Für ihn zählt allein, wie sich eine Person in der Abschiebehaft verhält, entsprechend werde sie auch behandelt.

Sie leiten die Einrichtung: Stefan Mollner und Susanne Muschkullus
Sie leiten die Einrichtung: Stefan Mollner und Susanne MuschkullusSophie Boyer

„Wenn jemand droht in ein Loch zu fallen, helfen wir“, sagt Susanne Musch­kullus, sie ist Mollners Stellvertreterin. Es gibt gezielte Hilfsangebote des Sozialdienstes und die Möglichkeit, mit einem Psychotherapeuten zu sprechen. „Die allermeisten kennen aber den Gang der Dinge“, sagt Muschkullus. Sie finden sich mit dem ab, was ihnen bevorsteht. Manche kündigen auch schon an, dass sie nach ihrer Abschiebung wieder nach Deutschland kommen wollen.

Eine Rückkehr aus Afghanistan dauert, aber oft geht es um die Rückreise von einem EU-Land nach Deutschland. In diesen Fällen werden die Migranten in die Länder abgeschoben, in denen sie zum ersten Mal registriert wurden. Ein Mann, der nach Belgien abgeschoben wurde, kehrte immer wieder nach Koblenz zurück, wo seine Freundin lebt, mehrmals war er laut Mollner in der Abschiebehaft. Auch seinen Kollegen fallen Beispiele ein.

„Warum bin ich hier?“

In der Einrichtung ist es extrem leise. Diese Ruhe ist laut Mollner und Muschkullus wichtig. Auch im Sinne der Mitarbeiter soll alles konfliktfrei ablaufen. Deshalb kann zunächst ein Gespräch mit den Insassen nicht stattfinden. „Das sorgt für Unruhe“, sagt Mollner. Mit ein paar Männern, die im Hofgang sind, ergibt sich durch den Zaun doch noch eine Unterhaltung. Einer erzählt, dass er seit fünf Monaten hier in Ingelheim sei. Wie die anderen fühlt er sich ungerecht behandelt, sei zu Unrecht hier. Ein anderer sagt: „Ich habe zwei kleine Kinder, ich will zu meiner Familie.“ Nach eigenen Angaben soll er nach Algerien abgeschoben werden. „Ich will zu­rück nach Neuwied“, dort hat er die vergangenen Jahre gelebt und gearbeitet.

Die Ruhe, die vorher unter den sechs Männern auf dem Hof herrschte, ist dahin. Ein anderer sagt, dass er elf Jahre beim Chemiekonzern BASF gearbeitet und sich nichts zuschulden habe kommen lassen. „Warum bin ich hier?“ Er habe sich einen Anwalt genommen. „Können Sie uns helfen? Können Sie uns hier rausholen?“, wollen sie wissen.

Anstaltsleiter Mollner lässt das Gespräch etwas widerwillig geschehen. Aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen kann er die Angaben der Männer nicht kommentieren. Er sagt nur: „Keiner ist ohne Grund hier.“ In jedem Fall habe es ein rechtsstaatliches Verfahren gegeben, ein Richter habe entschieden, dass die Abschiebung und damit die Verwaltungshaft erfolgen sollen. Es ist ein Schutz vor behördlicher Willkür. Und es ist ein Grund, wieso Abschiebungen lange dauern.